Leicester zittert vor dem Kollaps-Déjà-vu

  15 Mai 2021    Gelesen: 1950
  Leicester zittert vor dem Kollaps-Déjà-vu

Leicester City könnte mit dem erstmaligen Gewinn des FA-Cups die starke Entwicklung unter Trainer Brendan Rodgers krönen. Wichtiger ist allerdings der Schlussspurt in der Premier League - und der Kampf gegen die eigene Vergangenheit.

England ist das Land des Linksverkehrs, der undichten Fenster und der Fußball-Statistiken. Fans und Fachleute sind besessen davon, "the beautiful game" in Zahlen, Daten und Fakten zu zerlegen. In der öffentlichen Nachbesprechung von Leicester Citys 2:1 bei Manchester United am Dienstag machte ein hübsches Beispiel der englischen Vorliebe für fußballerische Trivia die Runde.

Das Ensemble des nordirischen Trainers Brendan Rodgers ist erst die vierte Mannschaft überhaupt, die in einer Premier-League-Saison beide Klubs aus Manchester in deren Stadien besiegen konnte. Zu Beginn der Spielzeit gelang den Foxes ein 5:2 bei Manchester City, jetzt folgte der Sieg bei United (womit der Stadtrivale zum Meister gekürt wurde).

Leicester, vor fünf Jahren selbst sensationell Premier-League-Champion, kann sich wieder mit den größten Namen des Landes messen. Darauf wies auch Rodgers nach dem Sieg in Old Trafford hin: "Heute haben wir gegen einen Europa-League-Finalisten gespielt, am Samstag spielen wir gegen einen Champions-League-Finalisten", sagte der Coach erkennbar stolz. Leicester muss den Sieg bei Manchester United, das am 26. Mai im Endspiel des europäischen B-Wettbewerbs gegen Villareal steht, schnell abhaken, denn an diesem Samstag (18.15 Uhr im Liveticker bei ntv.de) ist das nächste Highlight terminiert. Im Finale des FA-Cups geht es im Wembley-Stadion gegen Thomas Tuchels FC Chelsea, der sich am 29. Mai mit Manchester City um den Titel in der Königsklasse duelliert.

Leicester nimmt zum ersten Mal seit mehr als 50 Jahren am Finale des traditionsreichen englischen Pokals teil. Im insgesamt fünften Anlauf soll es erstmals klappen mit dem Gewinn des FA-Cups. Der letzte Ernst dürfte den Foxes aber fehlen, wenn sie den heiligen Rasen von Wembley betreten. Denn erstens sind sie krasser Außenseiter gegen Tuchels Elf, und zweitens haben sie das wichtigste Spiel der Woche schon gewonnen mit dem 2:1 bei Manchester United.

Ein Sieg über das Trauma des Vorjahres?

Die Premier-League-Saison auf einem der ersten vier Plätze abzuschließen und damit den Einzug in die finanziell lukrative Champions League zu schaffen - das hat für Leicester Priorität. Nach dem Sieg in Old Trafford sieht es gut aus damit. Die Mannschaft ist Dritter und hat bei zwei verbleibenden Ligaspielen acht Punkte Vorsprung auf den Fünften West Ham (noch drei Spiele) und neun auf den Sechsten Liverpool (noch vier Spiele).

Vieles deutet darauf hin, dass die Foxes das Trauma der vergangenen Saison besiegen. Damals wurde die Mannschaft zwischenzeitlich sogar als Titelkandidat gehandelt, verspielte die fast sichere Champions-League-Qualifikation allerdings nach der Rückkehr aus dem fußballerischen Corona-Lockdown wegen Verletzungsproblemen und schwacher Nerven. Unter anderem gab es Niederlagen gegen die Absteiger Norwich City und AFC Bournemouth. In dieser Spielzeit drohte sich Geschichte zu wiederholen.

Der Einzug in die Königsklasse schien Leicester zu entgleiten mit dürren Ergebnissen. Gegen einen FC Southampton mit zehn Mann (der Ex-Bundesliga-Profi Jannik Vestergaard hatte in der Anfangsphase Rot gesehen) reichte es nur zu einem 1:1, beim 2:4 gegen Newcastle United offenbarte die Mannschaft massive Konzentrationsschwächen und bot die schlechteste Saisonleistung.

Trainer Rodgers wurde wieder einmal eines "bottle jobs" bezichtigt - so lautet die stets mit Schadenfreude vorgetragene Bezeichnung der Engländer für einen selbstverschuldeten Kollaps kurz vor dem Ziel. Am berühmtesten Beispiel dafür war Rodgers selbst beteiligt, nämlich in der Saison 2013/2014. Damals verspielte sein FC Liverpool die Meisterschaft wegen eines denkwürdigen Ausrutschers von Steven Gerrard. Doch nach dem Sieg bei Manchester United stehen die Chancen gut, dass diese Spielzeit ein gutes Ende nimmt für den Trainer und seine Foxes. Oder, wie es das Portal "The Athletic" formulierte: "Wenn sie ein Auto wären, würden sie der Ziellinie entgegen stottern. Doch Rodgers steuert sie ins Ziel."

Es gibt nicht mehr nur Jamie Vardy

Mittlerweile ist Leicester die größte Bedrohung für die etablierten Topklubs in England, der Stachel in Fleisch der sogenannten Big Six. Während der FC Arsenal und Tottenham Hotspur ins Mittelmaß abgerutscht sind, stand Leicester in dieser und der vergangenen Saison fast durchgehend auf einem Champions-League-Platz. Und das, obwohl die wohlhabendere Konkurrenz immer wieder im King-Power-Stadion plündert. N'Golo Kanté und Riyad Mahrez, zwei Stützen der Meistermannschaft von 2016, treffen sich in zwei Wochen mit Chelsea und Manchester City im Champions-League-Finale. Harry Maguire löste den Liverpooler Virgil Van Dijk 2019 mit seinem Wechsel zu Manchester United für mehr als 90 Millionen Euro als teuersten Verteidiger der Welt ab. Vor dieser Saison wechselte Ben Chilwell zu Chelsea.

Der englische Linksverteidiger war allerdings der einzige Leistungsträger, der Leicester nach der verpassten Champions-League-Qualifikation verließ. Umworbene Profis wie der Ex-Freiburger Caglar Söyüncü, Harvey Barnes oder James Maddison blieben der Mannschaft erhalten. Außerdem verstärkte sich Leicester schlau mit den jungen Verteidigern Wesley Fofana (Saint-Étienne) und Timothy Castagne (Atalanta Bergamo). Ein gefühlter Zugang ist Stürmer Kelechi Iheanacho. Er wurde einst bei Manchester City zum Profi und wechselte 2017 zu Leicester. Erst in dieser Saison hat er die Abhängigkeit der Mannschaft von Torjäger Jamie Vardy beendet. Mit seinen elf Treffern seit Anfang Februar liegt Iheanacho nur knapp hinter den 13 Saisontoren Vardys.

Chelseas Abwehr um Antonio Rüdiger muss sich im FA-Cup-Finale also auf ein Leicester City einstellen, das neuerdings zwei gefährliche Stürmer hat. Allerdings hat diese Partie für die Foxes nicht den höchsten Wert. Wichtiger sind die abschließenden beiden Premier-League-Spiele in der kommenden Woche (wieder) gegen Chelsea und Tottenham. Dann soll das Trauma der vergangenen Spielzeit endgültig abgelegt werden - mit der Qualifikation zur Champions League.

Quelle: ntv.de


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