"Wir kennen das spezifische Risiko nicht"

  28 Mai 2021    Gelesen: 592
"Wir kennen das spezifische Risiko nicht"

Sollen Kinder und Jugendliche geimpft werden und wenn ja, ab welchem Alter? Die STIKO will das nicht generell empfehlen, beim Impfgipfel heute wird Streit darum erwartet. Wir haben keine Chance an Daten zu kommen, die uns Sicherheit geben, sagt der Immunologe Peter Kern, Leiter der Klinik für Immunologie am Klinikum Fulda, im Gespräch mit ntv.de. Eine gute Nachricht für Eltern hat er trotzdem.

ntv.de: Die STIKO, also die Ständige Impfkommission, gibt keine generelle Empfehlung, sondern spricht sich nur für die Impfung vorerkrankter Kinder aus. Was würden Sie Eltern raten?

Peter Kern: Als Arzt ist es meine Aufgabe, in jedem Einzelfall abzuwägen: Wie groß ist die Gefahr durch die Krankheit, und wie groß wäre die Gefahr durch die Impfung? Wir haben in der einen Waagschale ein sehr geringes Risiko für Menschen unter 20 Jahren, an Covid-19 zu sterben. Statistisch ist es kaum zu erfassen, nahezu auszuschließen. Eine Infektion kann funktionelle Schäden nach sich ziehen, Long Covid ist möglich, aber auch diese Gefahr ist bei den sehr Jungen ganz gering.

Was liegt in der anderen Waagschale?

Das Risiko durch die Impfung, das ich einem gesunden Kind zumuten müsste. Wir impfen ja nicht Erkrankte, sondern Gesunde. Das Risiko durch die Impfung müsste darum deutlich kleiner sein als die Gefahr durch die Krankheit. Diese, das haben wir eben schon festgestellt, ist äußerst klein. Und nun müsste also das Risiko durch die Impfung noch kleiner sein, um in der Abwägung ärztlich raten zu können: Lassen Sie Ihr Kind impfen. Das ist ganz klar, eine ganz einfache Logik. Nun müsste man wissen: Wie groß ist das Risiko der Impfung bei sehr jungen Menschen? Und das ist das Problem, das die STIKO hat: Wir wissen es einfach nicht.

Wie schnell wäre es rauszufinden?

Sehr junge Menschen sind noch kaum in Studien erfasst worden, das wird gerade erst gemacht, um zu sehen, ob Nebenwirkungen auftreten. Und Nebenwirkungen, das wissen wir aus den Studien mit Älteren, sind zum Glück ja sehr selten. Um aber eine sehr seltene Nebenwirkung zu erfassen, müssten wir eine sehr große Zahl von Probanden untersuchen, auch über lange Zeit. Das ist überhaupt nicht machbar.

Dann bleibt die zweite Waagschale leer?

Auf Studien zu warten, die uns belegen, dass das Impfrisiko für Kinder noch viel geringer ist, als das Risiko durch eine Erkrankung, ist unrealistisch, das wird nicht gelingen. Und an kleinen Studien, die man schneller durchführen kann, wird man seltene Impfrisiken nicht erkennen können. Etwas, das mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit eintritt, nämlich der Impfschutz, das kann man in sehr kleinen Studien mit wenigen Probanden und in kurzer Zeit nachweisen.

Dafür reichte die Zulassungsstudie von Pfizer aus?

Die wurde an 2260 Kindern zwischen 12 und 15 Jahren durchgeführt. Die Schutzwirkung können die Forscher durch diese Studie mit einer Wahrscheinlichkeit von 99,9 Prozent nachweisen. Aber nehmen Sie eine seltene Nebenwirkung wie die Sinusvenenthrombose bei Astrazeneca, die nur in einem von 100.000 Fällen auftritt: Die würde man in der Kinder-Studie mit so wenig Probanden wohl kaum entdecken, nur mit einer Wahrscheinlichkeit von zwei Prozent.

Wir wissen also schnell, ob die Impfung wirkt.

Aber es würden Jahre vergehen, bis wir wüssten, dass sie ein deutlich kleineres Risiko birgt als die Erkrankung.

Dann wird von der STIKO da auch nichts mehr kommen?

Die kann ihren Rat ja nur auf wissenschaftlicher Basis geben. Dazu muss sie beide Risiken kennen, dann kann sie wissenschaftlich abwägen. Wir haben aber bei Kindern schon Schwierigkeiten, das Risiko der Krankheit zu benennen, weil es statistisch kaum mehr erfassbar ist. Das Risiko der Impfung kennen wir derzeit nicht. In der Situation kann man eine wissenschaftlich begründete Stellungnahme eigentlich nicht mehr abgeben. Darum hat die STIKO völlig recht zu sagen: Hier müssen wir schweigen.

Was kann die Politik tun?

Da kommt noch eine andere Ebene der Abwägung ins Spiel. Der Arzt ist immer primär dem Einzelfall verpflichtet. Die Politik muss auch gesellschaftlich abwägen. Sie kann die Impfung freigeben, das ist ja auch derzeit die Tendenz. Dann werden sich manche Eltern für eine Impfung entscheiden, und so wird man langsam durch die Realität an die Daten und Erfahrungen kommen, die uns Studien nicht liefern können.

Aber ohne Empfehlung - wie sollen Eltern diese Entscheidung fällen?

Diese Abwägung ist viel schwieriger als bei älteren Menschen. Auch bei den Älteren kannten wir das Risiko der Impfung nicht genau, aber wir kannten das Risiko der Erkrankung. Das ist hoch. Und je älter der Mensch ist, desto eindeutiger ist, dass er von einer Impfung massiven Nutzen haben wird. Darum ist die Abwägung da viel leichter gewesen. Aber Kinder sind eben keine jungen Alten. Dass beide Risiken, das der Krankheit wie das der Impfung, sich bei Kindern aber auf so niedrigem Niveau bewegen, kann Eltern beruhigen, denn so kann die Entscheidung kaum gravierend falsch sein. An der Schutzwirkung gegen tödliche Verläufe alleine ist sie bei Kindern nicht zu treffen. Der Schutz vor langfristigen Krankheitsfolgen kann ein individuelles Argument sein. Dazu kommen die gesellschaftlichen Effekte: Nur gemeinsam und nur geimpft können wir Herdenimmunität erreichen und das Entstehen weiterer Mutanten verhindern.

Erreichen wir die Herdenimmunität aber auch ohne die jungen Leute?

Um das pandemische Wachstum zu brechen, brauchen wir effektive Immunität bei 75 bis 80 Prozent der Bevölkerung. Wir haben 13,7 Millionen Menschen unter 18 in Deutschland - das sind 16,5 Prozent der Bevölkerung. Das heißt, rein rechnerisch wäre es völlig ohne Kinder und Jugendliche machbar, wenn wir bei den Erwachsenen eine Immunisierungsquote von etwa 95 Prozent erreichen würden. Das ist natürlich völlig unrealistisch. Ganz ohne junge Menschen wird es mit der Herdenimmunität also nicht klappen.

In Debatten taucht immer mal eine Befürchtung auf, dass das Virus sich per Mutation auf die ungeimpften Kinder einstellen könnte und die dann schwerer erkranken ließe.

Es wäre denkbar, dass sich das Virus in einer ungeimpften Teilpopulation neu formieren könnte und auch ausbreiten, denn die Kinder haben genug Kontakt untereinander. Das ist ein dynamischer Risikoprozess. Solange ein gewisser Lebensraum für das Virus erhalten bleibt, ist eine solche Gefahr immer gegeben.

Weil wir durch die Impfung den Lebensraum des Virus beschneiden?

Und weil wir so den Druck auf das Virus erhöhen, aus den Mutanten diejenige weiterzuentwickeln, die auch unter diesen widrigen Umständen noch funktioniert, genau. Bis irgendwann die Dynamik kippt und der Lebensraum so klein ist, dass selbst die beste Mutante keine Chance mehr hat. Die spannende Frage wäre: Wo ist dieser Kipp-Punkt? Dafür braucht man eine noch höhere Immunisierungsquote in der Population als für den Stopp der pandemischen Ausbreitung, den wir ja mit Herdenimmunität erreichen. Also liegt er bei "80 Prozent Immunisierte + X". Man könnte ihn genauer verorten, wenn man das Virus kennt. Aber die Mutante, über die wir hier sinnieren, müsste ja erst noch entstehen.

Mit Peter Kern sprach Frauke Niemeyer

Quelle: ntv.de


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