ntv.de: Bundeskanzlerin Angela Merkel hat zum Auftakt der WHO-Jahrestagung für einen Pandemievertrag geworben. Was ist daraus geworden?
Olaf Wientzek: Es war von Anfang an klar, dass das kein einfaches Thema sein würde, weil es unter einigen Ländern erhebliche Vorbehalte gegenüber einem solchen Pandemievertrag gibt. Daher war es alles andere als sicher, dass es dafür Unterstützung gibt. Die Mitgliedstaaten der WHO werden sich nun wohl auf einen Mittelweg einigen: Im November wird eine weitere Sitzung der Weltgesundheitsversammlung stattfinden, die nur dieses Thema bearbeiten soll. Bis dahin soll geklärt werden, was in diesem Vertrag stehen kann. Das ist schon ein Erfolg, denn bis vor wenigen Tagen hatten einige Länder noch große Bedenken, diese Initiative auch nur zu diskutieren.
Was soll der Vertrag denn regeln?
Mit einem Pandemievertrag könnten verschiedene Dinge geregelt werden. Letztlich geht es darum, einen neuen Rahmen für politische Verantwortlichkeit zu schaffen, der definiert, wie Länder mit Gesundheitskrisen und Epidemien umgehen. Konkret könnte der Vertrag einen Mechanismus festlegen, wie sich die Mitgliedstaaten der WHO sich gegenseitig bei der Umsetzung ihrer Verpflichtungen kontrollieren. Er könnte auch eine Selbstverpflichtung der Mitgliedsstaaten regeln, ihre Gesundheitssysteme besser auf künftige Epidemien vorzubereiten. Die Staaten könnten außerdem einen viel schnelleren Datenaustausch über Ausbrüche und Infektionsraten vereinbaren, oder festlegen, dass die WHO im Fall einer Epidemie umgehend Zugang zu Ausbruchsregionen bekommt, ohne den jeweiligen Mitgliedstaat groß um Erlaubnis fragen zu müssen. Das wäre eine sehr starke Maßnahme. Über die möglichen Inhalte eines Pandemievertrags gehen die Vorstellungen noch weit auseinander. Viele Länder sind nicht gewillt, Maßnahmen zu akzeptieren, die sie als Eingriff in die eigene Souveränität begreifen. Deutschland hat da relativ weitgehende Vorstellungen.
Ist der Vorschlag der USA, die Patente der Impfstoffe freizugeben, ein Thema in Genf?
Ja, das ist ein Dauerthema, auch unabhängig von der Weltgesundheitsversammlung. Es gab ja schon im Oktober einen Vorstoß dazu von Indien und Südafrika, der von 60 Mitgliedstaaten unterstützt wurde. Das war ein sehr weitgehender Vorschlag, der für viele andere Mitgliedstaaten schwer akzeptabel war. Indien und Südafrika haben ihn mittlerweile etwas abgeschwächt. Aber aus deutscher Sicht geht er immer noch relativ weit. Das eigentliche Forum für dieses Thema ist allerdings nicht die WHO, sondern die WTO, die Welthandelsorganisation. Diese ist zuständig für das "Übereinkommen über handelsbezogene Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums", nach der englischen Bezeichnung kurz Trips. Ein Trips Waiver, also eine Aufhebung oder Aussetzung des Patentschutzes, müsste dort beschlossen werden, bei der WTO.
Kritiker bemängeln allerdings, dass es zumindest kurzfristig durch eine Aufhebung des Patentschutzes nicht zur Produktion von mehr Impfdosen kommen würde. Der Vorstoß der USA hat jedenfalls nicht dazu geführt, dass viele andere Mitgliedstaaten ihren Widerstand aufgegeben hätten. Das Thema ist nach wie vor sehr kontrovers.
Man könnte es verlogen nennen, dass ausgerechnet die USA sich einen solchen Vorschlag zu Eigen machen, wo sie doch einen Exportstopp für Impfstoffe verhängt haben.
Soweit würde ich nicht gehen, aber auf diesen Widerspruch wird seitens der EU durchaus mit Recht hingewiesen. Tatsächlich sollte man nicht vergessen, dass die EU Impfstoffe exportiert hat, die USA jedoch nicht. Und man darf auch nicht vergessen, dass die EU sich mit einer Milliarde Euro an der weltweiten Covax-Initiative beteiligt hat; das ist das Instrument, das die weltweite Verteilung von Impfstoffen unterstützt. Deutschland gehört zu den größten Unterstützern von Covax. Russland und China, die mit ihren Vakzinen sehr intensiv Impf-Diplomatie betrieben haben, sind bei Covax gar nicht oder deutlich weniger stark engagiert. Auch bei der Weltgesundheitsversammlung hat der Vertreter Chinas Impfsolidarität angemahnt - zu Covax hat er jedoch keinen Ton gesagt.
WHO-Chef Tedros Adhanom Ghebreyesus sagte, die Welt riskiere eine "Impfstoff-Apartheid". 75 Prozent der Impfdosen seien von nur zehn Ländern aufgekauft worden. Ist überhaupt vorstellbar, dass die nächste Pandemie weniger ungerecht verläuft?
Dieser Begriff, "Impfstoff-Apartheid", ist hier in Genf häufiger verwendet worden. Es ist natürlich klar, dass die derzeitige Situation auch für die reichen Länder sehr kontraproduktiv ist, weil in den Ländern, in denen derzeit noch nicht breit geimpft werden kann, neue Varianten des Virus entstehen können. Ein Pandemievertrag könnte dazu beitragen, einen Mechanismus zu schaffen, um die Verteilung von Impfdosen im Fall einer künftigen Krise zu regeln. Jetzt ist ein Fenster der Gelegenheit dafür da - die Vergangenheit zeigt ja, dass es unmittelbar nach Krisen den politischen Willen gibt, die notwendigen Reformen zu machen. Dieses Zeitfenster ist jedoch nur klein. Umso wichtiger wird die Sondersitzung der Weltgesundheitsversammlung im November sein. Bei der Weltgesundheitsversammlung wird viel darüber gesprochen, dass diese Pandemie die letzte sein muss - ein bei der WHA diskutierter Bericht spricht zurecht davon, dass Covid-19 der Tschernobyl-Moment des 21. Jahrhunderts sein muss.
Sie haben die Impf-Diplomatie von China und Russland angesprochen. Die EU geht eher verschämt damit um, dass sie Impfstoff in andere Länder exportiert. Es wirkt ein bisschen, als sei es ihr ganz recht, wenn die europäische Öffentlichkeit davon nicht so viel mitbekommt.
Für demokratische Staaten ist das ein schwieriger Balanceakt. Ein Land wie China muss sich nicht vor einer Öffentlichkeit rechtfertigen. Vielleicht wäre es wichtig gewesen, noch sehr viel deutlicher darauf hinzuweisen, dass die Pandemie erst vorbei ist, wenn sie weltweit vorbei ist. Natürlich ist es für Staaten wichtig, die eigene Bevölkerung zu impfen. Aber wenn man andere Länder komplett außen vor lässt, dann werden sich Virusvarianten entwickeln, gegen die die vorhandenen Impfstoffe möglicherweise nicht ausreichen. Dann wären wir in einem ewigen Kreislauf gefangen. Allerdings weiß ich auch, dass es eine Herkulesaufgabe ist, diese Einsicht zu vermitteln.
US-Präsident Joe Biden hat die US-Geheimdienste gerade damit beauftragt, binnen 90 Tagen einen Bericht über den Ursprung der Pandemie vorzulegen. Dabei geht es vor allem um die Laborthese, die die WHO für "extrem unwahrscheinlich" hält. Hat das Thema bei der Weltgesundheitsversammlung eine Rolle gespielt?
Das Thema ist in letzten zwei Tagen wieder in den Vordergrund gerückt: Die USA kritisieren die unzureichenden Ergebnisse der Wuhan-Mission im Februar und drängen nun rasch auf eine transparente und faktenbasierte Folgeuntersuchung. Eine ähnlich lautende Forderung war ursprünglich auch in einer Resolution der WHA enthalten, doch wohl mit Blick auf den Widerstand Chinas und weiterer Länder wieder aus dem Text entfernt worden. Wenn die Weltgesundheitsversammlung sich aber nicht auf die Empfehlung zu einer neuen Untersuchung einigen kann, dann werden die USA wohl außerhalb des WHO-Rahmens dahingehend aktiv werden.
Der WHO wird in diesem Zusammenhang immer wieder eine zu große Nähe zu China vorgeworfen. Zu Recht?
Man kann sicherlich der Auffassung sein, dass die WHO gegenüber China zu nachsichtig aufgetreten ist und dass sie stärkeren politischen Druck hätte ausüben können. Ich würde das allerdings nicht als spezifisches China-Problem der WHO sehen, sondern eher als grundsätzliches Problem: Die WHO hat keinerlei Zugangs- oder Zugriffsrechte und ist damit vollständig auf die Kooperationsbereitschaft der Mitgliedsländer angewiesen - das über einen Pandemievertrag zu ändern, ist ja auch einer der Reformvorschläge. Denn das betrifft nicht nur China: Im vergangenen Jahr hat die WHO einen Bericht zurückgezogen, der sich kritisch mit der Reaktion Italiens auf die Pandemie auseinandersetzte. Ich wüsste nicht, dass dabei von Italien großer Druck ausgeübt wurde, es gibt bei der WHO wohl eher eine Tendenz zum vorauseilenden Gehorsam. Nicht einmal die Trump-Administration wurde von ihr kritisiert, obwohl deren Umgang mit der Pandemie in den ersten Monaten sicherlich alles andere als angemessen war.
Mit Olaf Wientzek sprach Hubertus Volmer
Quelle: ntv.de
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