Bei der Visite teilt Álmos neuen Patienten mit, welche Medikamente sie wegen der schlechten finanziellen Lage der Abteilung selbst mitbringen müssen. Er schreibt Briefe an Firmen, die Spielzeug herstellen, und bittet darin um Spenden für die Station. Er rechnet jeden Monat aus, ob das Budget noch für Toilettenpapier reicht. Vor kurzem malerte er zusammen mit anderen Ärzten und Pflegern das Besprechungszimmer der Abteilung. Für Farbe und Pinsel hatten alle privat zusammengelegt.
Péter Álmos, 36, arbeitet seit zehn Jahren als Arzt in der psychiatrischen Klinik von Szeged. Außerdem ist er Dozent für Psychiatrie an der Universität der Stadt. Er verdient rund 650 Euro netto im Monat. Weil sein Verdienst zum Leben nicht ausreicht, übernimmt der Vater einer dreijährigen Tochter noch ein- bis zweimal pro Woche Dienste in einer Privatpraxis.
Massiver Mangel an Fachärzten und Fachpersonal
Die meisten ungarischen Ärzte sind in einer ähnlichen Lage wie Álmos. Immer mehr gehen ins westliche Ausland, wo sie ein Vielfaches verdienen - bei deutlich besseren Arbeitsbedingungen. Schätzungen zufolge haben seit Ungarns EU-Beitritt 2004 etwa 5000 Ärzte und 7000 Pflegekräfte das Land verlassen. Auch Álmos hat schon mit dem Gedanken gespielt, aus Ungarn wegzugehen. Doch dann fand er, es sei besser, erst einmal zu versuchen, etwas in seiner Heimat zu verändern.
Ende Dezember vergangenen Jahres verfasste er mit einigen Kollegen einen Facebook-Aufruf an die ungarische Regierung. Álmos und seine Mitstreiter fordern darin Lohnerhöhungen, eine Verbesserung der Infrastruktur in medizinischen Einrichtungen, einen Runden Tisch für Gesundheitsreformen und vor allem ein Ende der Korruption im Gesundheitswesen. "1001 Ärzte gegen Dankesgeld" heißt die Initiative - eine Anspielung darauf, dass die unterbezahlten Ärzte in Ungarn häufig Geldgeschenke von Patienten annehmen. In Álmos` Abteilung ist das tabu - so steht es in der Hausordnung.
Die Initiative stieß auf unerwartet große Resonanz im Land: Innerhalb eines Monats unterschrieben mehr als 2500 ungarische Ärzte, knapp ein Sechstel der in Ungarn arbeitenden Mediziner. "Das zeigt, dass unser Gesundheitswesen an einem kritischen Punkt angelangt ist", sagt Álmos.
Das belegt auch ein aktueller interner Bericht der staatlichen Gesundheitsbehörde ÁNTSZ, der kürzlich an die Öffentlichkeit gelangte. Mitarbeiter der Behörde überprüften dafür 100 Krankenhäuser. Das Ergebnis: In mehr als 70 von ihnen mangelt es an Fachärzten und Fachpersonal, jeder fünften Intensiv- oder Rettungsstation fehlen medizinische Geräte. Die hygienischen und sanitären Bedingungen sind oft schlecht, Mitarbeiter der Behörde fanden in einem Drittel der Krankenhausgebäude Schimmel an Wänden.
Die medizinische Infrastruktur verwahrlost
Ungarn steht damit in Osteuropa nicht allein da. In fast allen Ländern der Region, vom Baltikum bis Bulgarien, ist die Lage im Gesundheitswesen ähnlich desolat.
Überall mangelt es an Ärzten und Pflegern, weil diese wegen schlechter Bezahlung abwandern. Infolge chronischer Unterfinanzierung verwahrlost die medizinische Infrastruktur häufig. Während die Gesundheitsausgaben in westlichen EU-Ländern gemeinhin neun bis elf Prozent des Bruttosozialproduktes ausmachen, sind es in den meisten osteuropäischen Ländern nur um die sieben Prozent, in einigen Ländern, etwa Rumänien, sogar nur knapp über fünf Prozent.
Angesichts solcher Verhältnisse rebellieren die daheimgebliebenen Mediziner und Pfleger immer öfter. Proteste gibt es derzeit auch in Ungarns Nachbarland Slowakei. Dort wurden Anfang Februar Massenkündigungen von Krankenschwestern wirksam. Sie hatten diese selbst eingereicht, um höhere Löhne und eine bessere Ausstattung von Krankenhäusern zu erreichen. Die Regierung lehnt die Forderungen bisher ab.
Auch in Rumänien, das unter allen osteuropäischen Ländern am meisten vom Personalmangel im Gesundheitswesen betroffen ist, gingen letzten Herbst Ärzte und Pfleger für bessere Arbeitsbedingungen auf die Straße. "Revolte der Weißkittel" nannten sie ihren Protest. In Rumänien herrscht vor allem in Krankenhäusern in der Provinz ein regelrechter medizinischer Notstand - seit dem EU-Beitritt des Landes 2007 wanderten 14.000 Ärzte ab. Junge Assistenzärzte verdienen oft weniger als 300 Euro netto im Monat.
Gespräche lehnt die Regierung ab
Von einem miserablen Gehalt kann auch die Budapester Krankenschwester Erika Kis berichten. Die 47-Jährige arbeitet seit mehr als 25 Jahren auf der Intensivstation eines Unfallkrankenhauses. Für ihre Arbeit im Drei-Schicht-System erhält sie monatlich umgerechnet rund 500 Euro. Die Arbeitsbedingungen seien "katastrophal", sagt sie, der einzige Grund, warum sie im Gegensatz zu vielen anderen Kollegen nicht ins Ausland gegangen sei, seien ihre beiden Söhne, die in Budapest studierten und die noch bei ihr zu Hause wohnten.
Erika Kis unterstützt die Facebook-Initiative "1001 Ärzte gegen das Dankesgeld", auch sie fände es gut, wenn es einen Runden Tisch für eine umfassende Gesundheitsreform gäbe. Doch daraus wird wohl nichts. Gespräche mit den Initiatoren des Facebook-Aufrufes lehnte die Regierung bisher ab.
Sie will die Folgen des Ärztemangels mit Improvisation lindern: Künftig soll hochqualifiziertes Pflegepersonal - zu dem auch Erika Kis zählt - Aufgaben erledigen, die bisher Ärzten vorbehalten sind, so sieht es ein aktuelles Gesetzesprojekt vor.
Nach einem speziellen Vorbereitungskurs, so die Idee, dürfte das Pflegepersonal beispielsweise Menschen mit Diabetes oder Alterskrankheiten selbständig behandeln - also: Diagnosen stellen, Medikamente verschreiben und Therapien anordnen.
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