In Mariupol "riecht es nach Leichen"

  02 Juni 2022    Gelesen: 597
  In Mariupol "riecht es nach Leichen"

Mariupol hat wegen des Kriegs rund zwei Drittel seiner Einwohner verloren. Für die, die geblieben sind und die Belagerung überlebt haben, bleibt die Lage schwer. Es fehlt an Lebensmitteln und Medikamenten. Unzählige Leichen werden in Massengräbern begraben - oder "wie Müll in einen Haufen geschmissen".

Massengräber, soweit das Auge reicht. Die Stadtverwaltung von Mariupol hat vor wenigen Tagen ein Drohnen-Video veröffentlicht, das einen Friedhof in der Nähe der besetzten Hafenstadt zeigt. Es seien 25 grabenartige Sektoren entstanden, Leichen werden in mehreren Schichten beerdigt, die Gräber werden mit Kreuzen und Schildern als Einzelgräber "getarnt", hieß es dazu. Die Aufnahmen offenbaren das Ausmaß der Katastrophe, zeigen aber nur einen von mehreren Friedhöfen nahe Mariupol, auf denen nach Angaben der Stadtverwaltung allein von Mitte April bis Mitte Mai insgesamt rund 21.000 Menschen in Massengräbern begraben wurden.

Wadym Bojtschenko, der Bürgermeister der Stadt, wies in dem Post darauf hin, dass Tausende getötete Zivilisten noch immer unter Trümmern oder in provisorischen Leichenhallen lägen. Zahlreiche Zivilisten seien zudem während der Kämpfe um die Stadt vor ihren Wohnhäusern notbestattet worden. "Wir schätzten die Zahl der getöteten Einwohner auf 22.000. Aber immer mehr Fakten deuten darauf hin, dass die Folgen des von den Raschisten begangenen Übels viel schlimmer sind", schrieb der Bürgermeister bei Telegram. Mit "Raschisten" werden in der Ukraine die russischen Invasoren bezeichnet, das Wort setzt sich aus "Russen" und "Faschisten" zusammen.

Leichen werden "wie Müll in einen Haufen geschmissen"

Vor dem Krieg zählte Mariupol etwa 450.000 Einwohner. Nach Einschätzung von Alexander Laschin, einem Mitglied des Stadtrats, schrumpfte die Einwohnerzahl der weitgehend zerstörten Stadt um zwei Drittel. Rund 150.000 Menschen seien in Mariupol geblieben, sagte der Politiker in einem Interview mit dem exilrussischen Fernsehsender "Current Time". Nach der Kapitulation der Verteidiger des Asowstal-Stahlwerks vor rund zwei Wochen wird in der Stadt zwar nicht mehr gekämpft. Für die verbliebenen Einwohner bleibe die Situation aber weiterhin kritisch.

So gibt es laut Laschin immer noch praktisch keinen Strom und kein Trinkwasser. Die russischen Besatzer versuchten demnach, die Wasserversorgung wiederherzustellen, doch das habe nicht funktioniert: "Sie haben die Straßen überflutet, viele Gräber weggespült." Vor wenigen Tagen teilte Petro Andruschenko, ein Berater des Bürgermeisters, auf Telegram ein verstörendes Bild, das zahlreiche verweste Leichen auf dem Boden eines Supermarkts zeigt. Dabei soll es sich um die weggespülten Leichen handeln, die von den Besatzern gesammelt und "wie Müll in einen Haufen geschmissen wurden", schrieb Andruschenko.

Plünderer verkaufen Raubgut auf der Straße

Aufgrund der schlechten Hygienebedingungen warnen Experten vor einem möglichen Ausbruch der Cholera oder anderer Krankheiten in Mariupol. Aktuell herrschen in der Stadt Temperaturen um die 30 Grad. "Unter der sengenden Sonne verwesen die Leichen sehr schnell. In der Stadt riecht es nach Abwasser und an manchen Stellen nach Leichen. Wir sind am Rande einer Epidemie", sagte Laschin im Interview mit "Current Time". Der Politiker befindet sich nicht mehr in Mariupol, bleibt aber nach eigenen Worten im ständigen Kontakt mit verbliebenen Bewohnern.

"Wir haben Aufnahmen von Hunden gesehen, die mit einer menschlichen Hand im Maul herumlaufen. Ebenso gibt es viele Ratten, Nagetiere, die Krankheiten übertragen. In der Tat, das Elend in der Stadt Mariupol könnte noch größer werden", so Laschin.

Nach den Worten Laschins gibt es in der Stadt so gut wie keine Apotheken mehr, Medizin sei Mangelware. Gleichzeitig sei die Nachfrage nach lebenswichtigen Medikamenten sehr groß. Auch Lebensmittel seien knapp. Mancherorts findet man Händler, die auf den Straßen Lebensmittel, Drogerieartikel und weitere Produkte verkaufen. Laut Laschin wird auf diesen "spontanen Märkten" zum großen Teil Raubgut verkauft. Die meisten Verkäufer seien Plünderer, die "in unseren Häusern, Geschäften und Cafés Sachen gestohlen haben und sie jetzt in der Stadt verkaufen".

Humanitäre Hilfe wird verkauft

Es gibt auch Berichte über Menschen, die die Not der Einwohner ausnutzen. Wie Laschin im Interview erklärte, komme es vor, dass humanitäre Hilfe nicht kostenlos verteilt, sondern verkauft wird. "So wie ich es verstehe, hat das russische Militär einfach beschlossen, durch den Verkauf zusätzliches Geld zu verdienen", so der ukrainische Politiker.

Die südukrainische Hafenstadt Mariupol wurde seit den ersten Kriegstagen von russischen Truppen belagert und heftig beschossen. Die Strom- und Wasserversorgung fiel aus, Zivilisten versteckten sich monatelang in Kellern und auf dem Gelände des Asowstal-Stahlwerks. Zahlreiche Evakuierungsversuche in die Ukraine scheiterten an der fehlenden Bereitschaft der Russen, humanitäre Korridore einzurichten. Seit rund zwei Wochen ist die Stadt komplett in russischer Hand. Die letzten Verteidiger Mariupols befinden sich in Gefangenschaft im Separatistengebiet in der Ostukraine. Ihnen droht die Todesstrafe.

Quelle: ntv.de


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