Zwar ist es schon fast zwei Monate her, dass die russischen Raketen die ukrainische Hauptstadt Kiew zum letzten Mal getroffen haben. Dennoch ist die Stimmung unter den Kiewern sowie in der gesamten Gesellschaft dieser Tage noch etwas angespannter als sonst. Viele befürchten, dass vor dem Hintergrund des Tages der Nationalflagge am 23. August und vor allem des ukrainischen Unabhängigkeitstages am Folgetag, der auch ein halbes Jahr des großen russischen Angriffskrieges markiert, ein russischer Massenbeschuss folgen könnte. Den Beamten im Regierungsviertel wird empfohlen, in diesen Tagen von zu Hause aus zu arbeiten. Die Öffnungszeiten der Kiewer U-Bahn werden verkürzt.
Gleichzeitig findet am 23. August in Kiew das Eröffnungsspiel der neuen Saison der ukrainischen Premjer-Liga statt. Im Olympijskyj-Stadion empfängt Schachtar Donezk Metalist 1925 aus Charkiw - zwar ohne Zuschauer, doch die Austragung der Liga im eigenen Land trotz der russischen Raketengefahr gilt als starkes Zeichen ans In- sowie ans Ausland. "Die Mannschaft auf ein Spiel in Zeiten des Krieges vorzubereiten, ist natürlich schwer. Das ist eine vollkommen ungewöhnliche Situation", sagt der neue kroatische Cheftrainer von Schachtar, Igor Jovicevic. "Wir werden sehen, was passiert, wenn es zum Beispiel während des Spiels einen Luftalarm gibt. Wir wollen vor allem zeigen, dass das Leben weitergeht. Für uns ist es auch schwer, wir sind auch Menschen. Doch wir wollen den Fans Freude bereiten."
Selenskyj hatte klaren Wunsch an die Liga
Die letzte Saison wurde gleich am Anfang des russischen Überfalls abgebrochen. Die provisorische Tabelle wurde etwa für die Verteilung der Plätze im Europapokal übernommen, der Tabellenführer Schachtar wurde jedoch nicht zum ukrainischen Meister ernannt. Im Vorfeld auf die neue Meisterschaft gab es viele Spekulationen darüber, ob die Premjer-Liga nicht zumindest teilweise in Polen oder in einem anderen osteuropäischen Land ausgetragen wird. Gesprochen wurde über viele Szenarien, doch der große Wunsch, in der Ukraine zu spielen, kam direkt aus der Präsidialverwaltung sowie persönlich von Präsident Wolodymyr Selenskyj.
"Ich habe mit Selenskyj darüber gesprochen, dass es wichtig ist, die Menschen mit Fußball abzulenken. Die Austragung der Liga im Ausland wäre künstlich gewesen", betont Andrij Pawelko, Präsident des ukrainischen Fußballverbandes UAF, der von einer "historischen Meisterschaft" spricht, die "den Geist der Ukrainer in die Geschichte des Weltfußballs" einschreiben sollte. Lediglich für die Teilnehmer des Europapokals gibt es Möglichkeiten, einzelne Spiele im Ausland auszutragen - und zwar aufgrund der schweren Logistik, denn eine Flugverbindung in die Ukraine gibt es aufgrund des Krieges nicht. Schachtars Trainer Jovicevic weiß aber selber noch nicht, wie genau das in der Praxis aussehen soll.
Generell werden Spiele überwiegend in Kiew sowie in westukrainischen Städten ausgetragen. Unklar bleibt dabei etwa, ob dem Wunsch des Aufsteigers Krywbas aus Krywyj Rih, der Heimatstadt Selenskyjs, zu Hause rund 100 Kilometer von der Frontlinie entfernt zu spielen, entsprochen wird. Jedenfalls werden örtliche Sicherheitsbehörden der Austragung von jedem Spiel zustimmen müssen, und so ist davon auszugehen, dass sich die Spielorte innerhalb der Saison ändern könnten. Daher wird mit einer improvisierten Meisterschaft gerechnet, bei der der Kalender größtenteils als höchst provisorisch zu betrachten ist.
Luftalarme als Teil des Reglements
Ein spannendes Thema sind selbstverständlich Luftalarme, deren strenge Einhaltung das Reglement fordert. So muss sich ein Luftschutzkeller maximal 500 Meter vom Stadion entfernt befinden, bei einem Luftalarm wird das Spiel sofort unterbrochen. Sollte der Luftalarm länger als eine Stunde dauern, dürfen die Verantwortlichen über die Verlegung des Spiels auf den nächsten Tag entscheiden. Weil Luftalarme unprognostizierbar sind und mehrmals pro Tag kommen können, wird mit sehr vielen einzigartigen Situationen gerechnet.
"Sportlich gesehen könnte es eine sehr spannende Saison werden", glaubt Oleh Schtscherbakow, Chefredakteur des führenden Sportportals Ua.Tribuna.Com. "Die Liga ist viel ausgeglichener geworden. Dynamo und Schachtar sind zwar wieder ganz vorne zu erwarten, doch wer danach als Dritter kommt, ist völlig offen. Ich traue mir gar keine Prognose zu." Interessanterweise ist Dynamo diesmal klarer Favorit, obwohl Schachtar die letzten Jahre im Schnitt erfolgreicher war. Die Mannschaft aus Donezk leidet stärker unter dem Wegfall von vielen Ausländern als die Kiewer, die schon länger vor allem auf Ukrainer setzen.
Hinter Dynamo und Schachtar wird mit großer Spannung auf den Aufsteiger Krywbass geschaut. In der Vergangenheit war der Verein aus der Heimatstadt von Selenskyj ein Traditionsverein, der allerdings wegen Schulden insolvent gegangen ist. Eine Neugründung wurde 2020 vom ukrainischen Präsidenten initiiert, und obwohl er kaum Einfluss auf die operativen Entscheidungen von Krywbass haben dürfte, sitzt sein Vertrauter im Vorstand. Die Qualität des Kaders ist schwer einzuschätzen, doch es ist bemerkenswert, dass der ukrainische Top-Trainer Jurij Wernidub, der mit Sheriff Tiraspol Real Madrid in der Champions League schlug, die Mannschaft anführt. Seit Beginn des Angriffskrieges dient der deswegen in die Ukraine zurückgekehrte Wernidub in der ukrainischen Armee, hat aber die Erlaubnis erhalten, nun erstmal ein Fußballteam zu trainieren.
Zwei Klubs können nicht mitspielen
Zwei Vereine der Premjer-Liha werden dagegen aufgrund des Krieges die neue Saison verpassen, verlieren aber nicht den Platz in der höchsten ukrainischen Spielklasse. Es handelt sich um Mariupol sowie um Desna aus dem nordukrainischen Tschernihiw. Desnas Stadion wurde von der russischen Armee massiv beschädigt. Der Schaden für die Premjer-Liga ist aber deutlich kleiner als für die zweite und die dritte Ligen, wo insgesamt 24 Teams nicht an den Start gehen. Es gibt aber auch vier Neuzugänge.
Für die Fans ist die ukrainische Liga zwar eine Nebensache, doch sie freuen sich zum großen Teil auf die neue Saison. "Mein Interesse am Fußball ist natürlich durch den Krieg etwas kleiner geworden", erzählt Pawlo, ein Dynamo-Fan. "Es ist aber schön, dass man das mit der Austragung der Meisterschaft versucht. Ich werde die Saison verfolgen und Kiew den Sieg wünschen." Gleiches gilt auch für den in der Hauptstadt lebenden Schachtar-Fan Danylo: "Es gibt Wichtigeres als Fußball, doch es ist bei allen Risiken ein richtiger Schritt und vor allem ein richtiges Zeichen."
Quelle: ntv.de
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