"Was ist Narzissmus?" ist eine Frage, die nicht nur Tausende in die Suchleiste ihres Browsers eintippen, das ist auch eine Frage, bei der sich Experten am Kopf kratzen und lange nach einer Antwort suchen, wenn man sie fragt. Craig Malkin, klinischer Psychologe an der Harvard Medical School, beschäftigt sich in seinem Buch "Der Narzissten-Test" mit genau dieser Frage.
Narzissmus neu denken
Eigentlich will man das Buch lieber nicht lesen, weil es ja eben um den bösen Narzissmus geht, mit dem man nicht in Verbindung gebracht werden möchte. Aber der englische Titel "Rethinking Narcissism", also "Narzissmus neu denken", gibt ein bisschen Hoffnung, dass es vielleicht doch nicht ganz so schlimm wird.
Es geht klassisch los, mit der Legende von Narziss, der in der griechischen Mythologie einer unstillbaren Selbstliebe verfällt, als Strafe dafür, dass er die Liebe der Nymphe Echo verschmäht. Das mag nicht sonderlich originell sein, aber Malkin weist auf ein kleines Detail im Mythos hin, das das Fundament seines ganzen Buches bildet: dass nämlich Narziss und die Nymphe Echo, die keine eigene Stimme hat und so in kompletter Selbstverleugnung leben muss, perfekte Gegenspieler sind.
Jeder ist narzisstisch
Malkin nimmt die beiden und stellt sie als Endpunkte einer Skala dar: Echo als jemand, der sich selbst nichts bedeutet, Narziss als jemand, der sich alles ist. Mithilfe dieser Narzissmusskala veranschaulicht Malkin, wie der Begriff in der eigentlich ursprünglich definiert ist: als eine ganz normale Persönlichkeitseigenschaft. Auf Malkins Skala findet sich mithin jeder an einem bestimmten Punkt wieder, je nach seinen Lebensumständen wandert er mal Richtung Echo und mal Richtung Narziss. Narzisstisch ist im Prinzip also jeder – in einem bestimmten, aber veränderlichen Maß.
Das ist an sich nichts Neues, schon die alten Griechen glaubten, dass ein bisschen Selbstliebe nicht schadet; Sigmund Freud war der Ansicht, dass Narzissmus sogar ein gesunder Mechanismus der Selbsterhaltung sei. Was Malkins Buch trotzdem besonders macht, ist, dass es ihm gelingt, Narzissmus umzuwerten. Das Gefühl, etwas Besonderes zu sein, ist bei ihm nicht nur nicht schlimm, sondern sogar wertvoll.
Nicht immer, nicht überall, aber meist. Solange man nicht dauerhaft an einem der Endpunkte klebt, als Echo oder als Narziss, ist alles gut. Hoch rutscht man auf der Skala, wenn der eigene Selbstwert bedroht ist. Der Narzissmus hilft dann, das seelische Gleichgewicht aufrechtzuerhalten. Badet man gerade im Erfolg, rutscht man ein Stück herunter.
Malkin nimmt dem Wort Narzissmus das Pathologische, das seit einiger Zeit an ihm klebt, und zeigt, wie adaptiv es für Menschen ist, sich wertvoll zu fühlen. Ein Buch, das mal wieder stolz und ohne Schuldbewusstsein in den Spiegel sehen lässt. Wer am Ende immer noch zweifelt, ob er nicht doch ein böser Narzisst ist, kann im Buch noch den Test machen. Und für jene, die am Ende der Skala landen, hat Malkin auch gute Tipps. Denn wer sich ändern will, egal in welche Richtung, der schafft das auch, sagt er.
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