Die Europäische Kommission will die Regeln der Lieferkettenrichtlinie der EU lockern. Das Gesetz verpflichtet europäische Unternehmen, den Schutz von Menschenrechts- und Umweltstandards sicherzustellen. Mit ihren neuen Vorschlägen zielt die Kommission darauf ab, sowohl die Regeln als auch Sanktionsmöglichkeiten für Verstöße aufzuweichen. Der Gesetzesänderung müssen jedoch die Mitgliedstaaten und das Europäische Parlament zustimmen. Während die Lockerungen von Vertretern der Staaten begrüßt werden, sorgen sie im Parlament für politischen Sprengstoff.
Grüne, Sozialdemokraten und Teile der Liberalen laufen bereits gegen den Kommissionsvorschlag Sturm. Sie kritisieren, das Lieferkettengesetz werde durch die Verwässerungen zahnlos. Deshalb drohen die Konservativen in der Fraktion der Europäischen Volkspartei (EVP) offen damit, die Änderungen notfalls mit Stimmen von rechtsextremen Parteien durch das Parlament zu bringen. Es wäre nicht die erste gemeinsame Abstimmung mit Rechtsaußen, seit das im vergangenen Jahr neu gewählte Parlament seine Arbeit aufnahm.
Der stellvertretende EVP-Vorsitzende Tomas Tobé machte bereits deutlich, seine Fraktion habe keine Skrupel, für das entschärfte Lieferkettengesetz gemeinsam mit rechtsradikalen Abgeordneten eine Mehrheit zu suchen. Der EVP gehören CDU und CSU an und somit auch Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, deren Behörde die Gesetzesänderung initiiert hat. "Nach ihrem Wahlsieg sieht sich die EVP als Königsmacher", sagte Tobé dem Portal Politico. Das bedeute, sie könne Mehrheiten organisieren für Gesetze, mit denen die Sozialdemokraten nicht zufrieden seien.
EVP setzt Liberale und Sozialdemokraten unter Druck
Ziel einer entschärften Richtlinie sei es, die Überregulierung von Firmen zurückzuschrauben, sagte Tobé weiter. "Mehr und mehr beginnt [die] EVP zu erkennen, dass es nicht funktioniert, einerseits Spaß an der Deregulierung zu haben und dann zu versuchen, bei anderen Gesetzen auf der Seite der Pro-Europäer zu stehen." An die Grünen habe er bezüglich einer Zusammenarbeit gar keine Erwartungen mehr. Liberale und Sozialdemokraten setzt er unter Druck: Beide Fraktionen müssten nach dem Rechtsruck bei der Europawahl "erkennen, dass die politische Landschaft anders ist", so Tobé.
Die Grünen hoffen dennoch weiter darauf, mit den Parteien der politischen Mitte einen Kompromiss für die Gesetzesänderung zu finden. Sie kritisieren, die EVP habe ihnen bislang kein hinreichendes Gesprächsangebot unterbreitet. "Wir Grüne werden darauf drängen, die Kernpunkte des Gesetzes in den Verhandlungen zu retten. Langfristige Nachhaltigkeit und Wettbewerbsfähigkeit gehen Hand in Hand", sagt die grüne Anna Cavazzini, Vorsitzende des Ausschusses für Binnenmarkt und Verbraucherschutz, ntv.de. Das Zurückschrauben des Gesetzes kritisiert sie scharf. Es gebe bereits viele Unternehmen, die damit begonnen hätten, die Umwelt- und Menschenrechtsstandards in ihren Lieferketten nach den Vorgaben der Richtlinie abzusichern. Diese seien nun verunsichert. "Das ist ein Einknicken Ursula von der Leyens vor EVP-Parteipolitik und Lobbydruck von bestimmten Verbänden", so Cavazzini.
Auch René Repasi vermisst ein konkretes Gesprächsangebot der EVP. Der SPD-Europaabgeordnete war einer der Ideengeber für das Lieferkettengesetz. Die Sozialdemokraten seien zu Zugeständnissen beim Abbau der Berichtspflichten bereit, erwarteten jedoch dafür ein Entgegenkommen der Konservativen, wenn es um die zivilrechtliche Haftung von Unternehmen gehe, sagt Repasi ntv.de. Generell sei in seiner Fraktion das Vertrauen in die EVP aber bereits erschüttert. "Von einer echten Europapartei erwartet man, dass sie die Grenzen der eigenen Kompromissfähigkeit aufsucht, bevor sie Mehrheiten in Kauf nimmt, die nur mit den Stimmen der EU-feindlichen und antidemokratischen Kräfte zustande kommen", so Repasi. Er bekomme inzwischen den Eindruck, die größte Fraktion im Parlament sei nicht mehr an einer Kompromissfindung mit der politischen Mitte interessiert.
Das Parlament und die Mitgliedstaaten werden in den kommenden Wochen weiter über die Richtlinie verhandeln. Nachdem sie verabschiedet wurde, müssen die Mitgliedsstaaten sie innerhalb von zwei Jahren in nationales Recht umsetzen. Die Änderungen, die der Kommissionsvorschlag bislang vorsieht, sind so weitreichend, dass Kritiker darin eine Entkernung des Gesetzes sehen. Die Kommission beabsichtigt nicht nur, die Umsetzung des Gesetzes zu verschieben, sondern auch, die Auflagen für Unternehmen deutlich abzumildern.
Kommission will nur erste Zulieferer kontrollieren lassen
Unter das Lieferkettengesetz fallen Unternehmen und ihre Mutterkonzerne mit mindestens 1000 Beschäftigten, die weltweit jährlich mindestens 450 Millionen Euro umsetzen. Das Gleiche soll für Unternehmen gelten, die mindestens 80 Millionen Euro Umsatz machen, falls davon mindestens 22,5 Millionen Euro durch Einnahmen aus Lizenzgebühren generiert werden. Nach den Vorstellungen der Kommission sollen Firmen nicht, wie ursprünglich vorgesehen, ihre gesamte Lieferkette kontrollieren, sondern nur noch den ersten Zulieferer. Zudem soll die Klausel gestrichen werden, wonach Unternehmen die Vertragsbeziehung beenden müssen, falls ein Geschäftspartner gegen Regeln verstößt. Des Weiteren soll es den Ländern überlassen werden, ob sie Haftungsregeln für Firmen einführen - und welche Geldbußen sie bei Verstößen festlegen. Große Mitgliedstaaten wie Deutschland haben der Einführung von Haftungsregeln bereits eine Absage erteilt. Das Gesetz wird dadurch zahnlos.
Bei der Debatte während der Straßburger Plenarwoche im März trat offen zutage, wie verhärtet die Fronten im Europaparlament sind, wenn es um das Lieferkettengesetz geht. Der EVP wurde von Grünen, Sozialdemokraten und Liberalen vorgeworfen, mit Rechtsaußen-Fraktionen zusammenzuarbeiten. Derweil wies die Wortwahl der EVP-Abgeordneten gewisse Ähnlichkeiten mit jenen der rechten Parteien auf - wobei sie alle eine noch weitreichendere Entschärfung des Lieferkettengesetzes als im Kommissionsvorschlag vorgesehen forderten.
"Wenn wir sagen, dass die ESG-Kriterien [Abkürzung für die Kriterien Environmental, Social and Governance – zu Deutsch: Umwelt, Soziales und gute Unternehmensführung] von 80 Prozent der Firmen nicht angewendet werden müssen, wieso nicht die restlichen 20 Prozent befreien? Setzen wir das Ganze aus, damit wir zeigen, dass wir tatsächlich von Deregulierung sprechen", sagte der polnische Abgeordnete Marcin Sypniewski von der Fraktion Europa der Souveränen Fraktionen, der auch die AfD angehört. Der EVP-Abgeordnete Jorgen Warborn aus Schweden schien zumindest indirekt auf dieses Angebot einzugehen, als er sagte: "Wir müssen die Bürokratie noch weiter abbauen als in den Vorschlägen vorgesehen. Und die Fraktionen, die das machen möchten, mit denen wird die EVP zusammenarbeiten, um Wachstum zu schaffen, um Bürokratie abzubauen."
Zum Showdown kommt es bereits bei der Plenarsitzung am 1. April. Dann entscheidet das Parlament über ein Schnellverfahren für den Vorschlag, Unternehmen zwei Jahre mehr Zeit zu geben, bevor sie die Offenlegungspflicht erfüllen müssen.
In den vergangenen Monaten haben die Konservativen bereits mehrmals mit Rechtsaußen-Fraktionen Mehrheiten gesucht. Im November etwa schwächte die EVP mithilfe der Stimmen der AfD und anderer rechtsextremer Parteien die Entwaldungsverordnung ab. Zuvor hatten die Konservativen mit Fraktionen des rechten Randes einen Antrag für eine symbolische Resolution zur politischen Situation in Venezuela eingebracht, darunter waren auch AfD-Abgeordnete. Die Drohgebärden der EVP in Bezug auf die Lieferkettenrichtlinie sind also ernst gemeint. Die "cordon sanitaire" (zu deutsch: "Sperrgürtel"), wie die Brandmauer gegen Rechtsradikale im EU-Plenarsaal genannt wird, bekommt immer wieder neue Risse. Für die rechtsradikalen Fraktionen ein Grund zum Frohlocken. Ihre Mehrheitsfindung mit der EVP hat bereits einen Namen: Venezuela-Koalition.
Quelle: ntv.de
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