Zahed: Ich fange immer damit an, dass es den Islam nicht gibt. Wir können nicht zum Hörer greifen und Herrn Islam anrufen, um ihn nach seiner Meinung zu fragen. Wir sind der Islam, wir gestalten unseren Glauben selbst.
Zur Person
Ludovic-Mohamed Zahed wuchs in Algerien und Frankreich auf. 2012 gründete er in Paris eine Moschee, die offen für homo- und heterosexuelle Menschen ist. Er hat in Anthropologie und Psychologie promoviert und hält weltweit Seminare und Vorträge, in denen er für eine liberalere Auslegung des Korans eintritt.
SPIEGEL ONLINE: Radikale Muslime sehen das anders. In ihrer Vorstellung vom Islam hat Homosexualität keinen Platz.
Zahed: Das sind Faschisten, die religiöse, ethnische und sexuelle Minderheiten verfolgen. Da geht es um Kontrolle, Macht und Geld, nicht um Spiritualität. In Krisenzeiten gewinnen Faschisten immer an Einfluss. Das war bei den Nazis so und bei den Kommunisten in Osteuropa. In Myanmar sind es gerade Buddhisten, die Muslime töten. Wer so etwas tut, ist ein Verbrecher, egal welcher Religion er angehört. Das hat mit dem Islam nichts zu tun.
SPIEGEL ONLINE: Warum steckt der Islam in einer Krise?
Zahed: Seit Jahrhunderten wurden Muslime kolonisiert, erst von Türken, dann von Briten und Franzosen. Als US-Präsident George Bush mehr Öl brauchte, marschierte er in den Irak ein, angeblich um die Demokratie zu bringen. Doch er brachte nur den Bürgerkrieg. Fast täglich passieren im Nahen Osten Anschläge. Dabei ist der Islam eigentlich eine friedliche und tolerante Religion.
SPIEGEL ONLINE: In Iran, Brunei und anderen muslimischen Ländern, die der Scharia folgen, steht Homosexualität allerdings unter Strafe.
Zahed: Die Scharia ist menschengemacht und sie hat sich über die Zeit immer wieder verändert. Wir beten doch kein Gesetz an, das wäre dumm und dogmatisch. Wir müssen die spirituelle Botschaft verstehen, die der Koran vermitteln will, und das ist eine Botschaft der Toleranz und des Friedens. Im Koran steht nirgendwo, dass Homosexualität verwerflich sei.
SPIEGEL ONLINE: Wenn nichts darüber drinsteht, lässt das aber viel Luft für Interpretation - in beide Richtungen.
Zahed: Der Islam war jahrhundertelang tolerant gegenüber homo- und transsexuellen Menschen. Der Prophet selbst, Friede sei mit ihm, hat sich für sie eingesetzt und sie beschützt. Er nahm "Mukhannathun", so hießen damals weibliche Männer, sogar in sein Haus auf. Im Koran steht zwar auch die Geschichte von Sodom und Gomorrha, aber da geht es um Vergewaltigung, nicht um Homosexualität.
SPIEGEL ONLINE: Wann haben Sie gemerkt, dass Sie homosexuell sind?
Zahed: Mit 17 Jahren habe ich eine TV-Show in Algerien gesehen, in der einige Schwule über sich erzählten. Ich war angeekelt und gleichzeitig erleichtert. Endlich wusste ich, was mit mir los war. Vier Jahre später habe ich meine Familie um mich versammelt und mich geoutet. Mein Vater war nicht überrascht. Meine Mutter hat zwei Monate lang geweint und versucht, mich umzustimmen. Das hat natürlich nicht funktioniert.
SPIEGEL ONLINE: Wie lange hat es gedauert, bis Sie den Islam und Ihre Homosexualität vereinbaren konnten?
Zahed: Ich dachte lange, dass das nicht möglich sein würde. Ich wollte schon als Kind Imam werden, aber nach fünf Jahren Koranschule habe ich mich zuerst sieben Jahre lang von der Religion abgewandt. Über den Buddhismus fand ich zurück zur Spiritualität. Ich pilgerte nach Tibet und lernte, dass wir unseren eigenen Weg finden müssen. Da dachte ich, dass ich das vielleicht auch mit dem Islam schaffen kann. Ich war überrascht, wie gut es ging.
SPIEGEL ONLINE: Was sagen Ihre Eltern heute?
Zahed: Sie haben verstanden, dass Homosexualität keine Krankheit ist, sondern dass ich nun mal so bin, wie ich bin. Jetzt sagen sie, dass sie stolz auf mich sind. Aber es war ein langer Weg dorthin, und es hat viel Kraft gekostet, sie stolz zu machen.
SPIEGEL ONLINE: Wie viele andere Imame kennen Sie, die offen schwul sind?
Zahed: Inzwischen sind wir etwa zehn weltweit. Das ist nicht viel, aber wir müssen ja irgendwo anfangen.
SPIEGEL ONLINE: Haben Sie Angst vor Anschlägen?
Zahed: Ich bekomme Drohungen, aber noch viel öfter bekomme ich Zuspruch. Manchmal verstehen meine Kritiker auch, dass ich nicht provozieren will, sondern mich für einen menschlicheren Islam einsetze. Bis jetzt ist mir nichts passiert und ich bin glücklich und dankbar, dass ich so viel erreichen konnte. Ich habe keine Angst vor dem Tod, er ist nur eine andere Form des Bewusstseins. Doch bevor ich dahin übergehe, kann ich hoffentlich noch etwas bewegen.
Quelle : spiegel.de
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