Ein in der öffentlichen Diskussion um die Lebensversicherung vernachlässigter oder verschwiegener Punkt ist die schwache Ausstattung der Lebensversicherungen mit echtem Eigenkapital. In Deutschland beträgt das aggregierte Eigenkapital aller Lebensversicherungen knapp 2 Prozent ihrer ausgewiesenen statutarischen (versicherungstechnischen) Bilanzsumme. Für alle Lebensversicherer mit einer Bilanzsumme von insgesamt über 850 Milliarden Euro per Ende 2014 gibt es rund 16 Milliarden Euro Eigenkapital der Versicherungsgesellschaften. Würde zu Marktwerten bilanziert, beträgt die zu Marktwerten gemessene Bilanzsumme der Lebensversicherungen deutlich über 1000 Milliarden Euro.
Der effektive Bilanz-Leverage der Lebensversicherer, d.h. die Relation zwischen Bilanzsumme und effektivem Eigenkapital, ist also immens – gemessen an der statutarischen Bilanz im Schnitt somit über 50 Mal größer und damit größer als bei den Banken 2008 vor der großen Finanzkrise. Würden Aktiven und Passiven zu Marktwerten bewertet, läge der Bilanz-Leverage des Eigenkapitals eher bei 65 bis 100. Auf der Holdingstufe haben die größeren Versicherungs-Unternehmen wie Allianz, Axa oder Ergo/Münchner Rück natürlich genügend Eigenmittel. Sie investieren diese aber wegen der Regulation und Restriktionen des Geschäftsmodells nicht in das Eigenkapital der dedizierten Lebensversicherung. Typischerweise haben sie Gewinnabführungsverträge, welche möglichst viel Gewinne und Eigenkapital aus den dedizierten Lebensversicherern herauslösen.
Wenn die größeren Versicherer Risikokapital im Versicherungsgeschäft einsetzen, dann eher auf Holdingstufe oder im Schadengeschäft. Denn dort ist der Verteilschlüssel zwischen Versicherer und Versicherten verschieden und viel günstiger für die Versicherungsgesellschaften. Kleinere und mittlere Lebensversicherer sind mangels Reserven auf Holdingstufe teilweise besser kapitalisiert, haben aber im Ernstfall keinen Zugriff auf die Mittel der Holding.
Der Grund für diese Anomalie – eine de facto enorme Unterkapitalisierung – liegt im historischen Charakter der Lebensversicherung. Viele waren ursprünglich oder traditionell „Mutuals“, d.h. Genossenschaften, bei denen der Policenträger und der Aktionär identisch waren. Da brauchte es nicht viel Eigenkapital. Über Jahrzehnte lagen zudem die risikolosen Erträge weit über den Garantiesätzen. Auch von daher gab es keinen Bedarf für mehr Eigenkapital. Schließlich basierte die Berechnung des notwendigen Eigenkapitals auf aus heutiger Sicht unzureichender Berechnung der mathematischen Reserven für die Passivseite der Versicherungsbilanz. Garantien und Optionalitäten gegenüber den Kunden wurden überhaupt nicht oder nicht genügend eingerechnet oder berücksichtigt. Erst mit der Solvenz II-Verordnung, die auf EU-Ebene 2016 in Kraft getreten ist, wird den Garantien und Optionalitäten Rechnung getragen – allerdings auch dies in verzerrter Form.
Was die Lebensversicherung als Branche dagegen auszeichnet, ist die merkwürdige Behandlung der Eigenmittel. Zur Erfüllung von regulatorischen Eigenmittelvorschriften können die Lebensversicherer nämlich auf Ansprüche der Kunden zurückgreifen. Die Versicherungen in Deutschland rechnen die Rückstellung für Beitragsreserven (RfB) zu den Eigenmitteln. Im Moment liegen diese bei rund 45 Milliarden Euro, also ungefähr dem Dreifachen des effektiven Eigenkapitals. Die RfB sind eine Reserveposition für Überschüsse, die noch nicht den einzelnen Policenhaltern zugeteilt worden sind. Es sind ganz klar den Kunden gehörende Anwartschaften. Es gibt wohl nicht viele andere Branchen, die ganz legal Kundenguthaben als Eigenmittel anrechnen können.
Die Deregulierung des Lebensversicherungsmarktes in den 1990er Jahren ist unter anderem deshalb langfristig gescheitert, weil mit der Deregulierung gewinnorientierte Unternehmen in den vorher geschützten und kartellierten Markt drängten, welche eine regulatorische Arbitrage betreiben konnten. Sie gewährten aggressiv substantielle Garantien und schrieben den Versicherten zunächst hohe laufende Überschüsse gut, ohne entsprechend oder genügend Eigenkapital hinterlegen zu müssen. Man hätte, parallel zur Deregulierung, viel höhere echte Eigenkapital-Anforderungen unterlegen müssen.
Ganz ähnlich lief die Deregulierung im Übrigen bei den Banken ab, mit den bekannten Ergebnissen, dass auch dort die Deregulierung gescheitert ist. Auch die Banken in vielen Ländern der Eurozone können wegen ihrer Eigenkapitalschwäche ihre elementare Funktion als Kreditinstitute nicht mehr erfüllen, verschärft noch durch die völlig verquere Politik der Negativzinsen. Sie können keine Kredite an den privaten Sektor mehr gewähren, sondern nur noch primär Staatsanleihen kaufen.
Auch bei den Banken wurde die Konkurrenz in den 1990er Jahren durch die Deregulierung und Privatisierung sowie die Marktöffnung und Globalisierung massiv verschärft. Gleichzeitig und verzögert wurden bei den Banken durch Basel I und ab rund 2005 durch Basel II die Eigenkapital-Erfordernisse geradezu massiv gelockert, so dass die Banken von Mitte der 2000er Jahre an nur Bruchteile des Eigenkapitals von früher benötigten.
Neben der Zinspolitik der EZB ist die eklatante Eigenkapitalschwäche der Versicherungen für den massiven gegenwärtigen und zukünftigen Einbruch der Renten und Kapitalauszahlungen für die Versicherten mitverantwortlich. In der Konsequenz gibt es für die Policen-Inhaber, d.h. die Versicherten, keinerlei Reserven, keine Polster der Versicherungsgesellschaften, nichts Substantielles, was den Effekt der Zinsbaisse auf ihre eigenen Erträge abzufedern vermag.
Im Gegenteil: Regulatorische Vorgaben zur Sicherung der zukünftigen Solvenz der Versicherungsgesellschaften sorgen dafür, dass die Zinsbaisse für die Versicherten besonders brutal zuschlägt bzw. zuschlagen wird. Der Regulator hat sich primär um die Solvenz der völlig unterkapitalisierten Versicherungsgesellschaften Sorgen gemacht. Durch verschiedene Maßnahmen will er diese sichern. Merkwürdigerweise gehört aber im Unterschied zur Politik gegenüber den Banken nicht dazu, dass die Lebensversicherer ihre viel zu schmale Eigenkapitalbasis sofort aufstocken müssen. Es leuchtet wohl ein, dass bei Nullzinsen über Jahre hinweg und bei durchschnittlichen Garantiesätzen von 3 Prozent auf dem Altbestand eine Eigenkapitalbasis von 2 Prozent der Bilanzsumme nirgends hinreichen kann.
Um die Garantieansprüche sicherzustellen, hat das BaFin als nationaler Regulator der Versicherungswirtschaft 2011 eine sogenannte Zinszusatzreserve geschaffen. Die Lebensversicherungen müssen vor allem die Kapitalleben- und Rentenversicherungen aus den 1980er und 1990er Jahren sowie aus den frühen 2000er Jahren mit zusätzlichen Reserven unterlegen. Diese Altverträge aus der Zeit hoher Zinsen haben hohe Garantiesätze von 4 Prozent, 3.5 Prozent, 3.25 Prozent und 3 Prozent einerseits. Und die Versicherungen schrieben damals Jahr für Jahr zusätzlich hohe laufende Überschüsse gut. Deren Verzinsung ist ebenfalls zum historischen Garantiesatz gewährleistet. Weil die erzielbaren Renditen am Kapitalmarkt weit unter diese Garantiesätze gefallen sind, werden diese garantierten Versprechen aus der Vergangenheit als besonders gefährdet angesehen.
Diese Zinszusatzreserven werden in den nächsten Jahren explosionsartig ansteigen, sollten die Kapitalmarktrenditen niedrig bleiben. Die zur Anwendung kommende Formel garantiert dies. Die Formel ist genauso rückwärtsgerichtet wie die Formel für den Garantiesatz im Neugeschäft. In der Praxis geschieht diese Sicherstellung dadurch, dass die Versicherer Obligationen mit hohen Bewertungsreserven verkaufen und den Bewertungsgewinn gegenüber den Buchwerten als gesonderte Reserve halten müssen. Für die Versicherten bedeutet dies aber gleichzeitig viel niedrigere zukünftige Erträge. Denn die freiwerdenden Mittel werden dann von den Versicherungen zu tieferen Renditen (heute praktisch zu Nullzinsen) in Neukäufe investiert.
Damit wird die für die Zinszusatzreserve 2011 definierte und bis heute gültige Formel für den Referenzsatz zum Beschleuniger der Zinsbaisse in den zukünftigen Portfolio-Renditen – ein Akzelerator, der immer schneller und stärker wirkt. Denn nicht nur die Obligationen mit laufendem Verfall, sondern zusätzlich auch ein rasch ansteigender Teil der Papiere mit hohen Bewertungsreserven werden in immer hektischerem Rhythmus realisiert. Obligationen mit Bewertungsreserven sind typischerweise solche, welche noch lange oder signifikante Restlaufzeiten haben. Das Portfolio wird mit zunehmendem Tempo konzentriert in Papiere mit Niedrig- oder Nullzinsen umgeschichtet. Zwar reduziert sich der Garantiesatz auf den Altbeständen durch diese Zinszusatzreserve. Doch durch die Reinvestition zu Negativ- oder Niedrigzinsen wird die Differenz zwischen dem reduzierten Garantiesatz und der effektiven Portfolio-Rendite nur wieder vergrößert. Ein Rad, das immer schneller dreht, vor allem solange die Zinsen weiter sinken.
Statisch, d.h. von einer Periode zur nächsten, macht die Formel der Zusatzreserve die Portfolios sicherer. Dies deshalb, weil sie nur die Passivseite der Versicherungsbilanzen betrachtet. Aber dynamisch, in einem Kontext, der nicht nur die Passivseite, sondern auch die Aktivseite und damit die Gesamtbilanz intertemporal über mehrere Perioden hinweg betrachtet, vernichtet die Zinszusatzreserve die Lebensversicherung bei tendenziell weiter sinkenden Zinsen am Kapitalmarkt. Die Formel für den Referenzsatz wird die Lebensversicherung in eine Existenzkrise bringen, sowohl die Kapitalien der Versicherten wie die Versicherungen selbst.
Ein Teil der Versicherten spürt die Maßnahmen des Regulators schon heute. Im hastig durchgepaukten Lebensversicherungs-Gesetz von 2014 wurde deklariert, dass die Versicherten keinen Anspruch mehr auf Bewertungsreserven auf Obligationen und andere festverzinsliche Werte haben, wenn ihre Police fällig oder vom Versicherten gekündigt wird. Aufgrund eines Urteils des Bundesverfassungsgerichts hatten die Versicherten von 2005 bis Mitte 2014 hälftig Anspruch auf solche Bewertungsreserven. Für jene Versicherten, deren Policen seither ablaufen oder welche selber kündigen, schlägt sich dies rasch in Verlusten von Tausenden von Euro nieder. Prozentual kann dies bei einer fällig gewordenen Kapitallebensversicherung rasch 10 Prozent bis 15 Prozent des Kapitals betragen.
Gemeinsam ist beiden Maßnahmen des BaFin als nationalem Regulator, dass sie zum Zweck die Sicherstellung der Solvenz der Versicherer haben. Insofern gibt es eine gewisse Legitimität. Doch das grundlegende Problem, dass diese viel zu wenig Eigenkapital halten dürfen, wurde gar nicht angegangen. Dieses Geschäftsmodell mit Garantieprodukten praktisch ohne Eigenkapital ist durch die Zinsentwicklung obsolet geworden. Die Schieflage des Geschäftsmodells wird von den Maßnahmen des nationalen Regulators überhaupt nicht korrigiert. Im Gegenteil: Die Zinszusatzreserve wird die Situation in den kommenden Jahren massiv verschärfen. Es wird nur der unhaltbare Zustand konserviert.
Richtig durchschlagen wird die Krise aber dann, wenn die Effekte der neu gültigen Solvenz II-Vorschriften voll wirksam werden. In Verbindung mit den Maßnahmen des nationalen Regulators führen sie in einen Sumpf mit hohen Risikofaktoren.
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