Eine Studie kostet Zehntausende Männer das Leben

  07 Juni 2016    Gelesen: 376
Eine Studie kostet Zehntausende Männer das Leben
Eine US-Studie brachte die Krebsvorsorge mit Hilfe des PSA-Tests in Verruf. Jetzt zeigt sich: Die Untersuchung war fehlerhaft. Wissenschaftler sprechen vom größten Wissenschaftsskandal der Urologie.
Am Unterarm von Markus Graefen zapft die Assistentin mit einer Spritze einige Milliliter Blut ab. Die Kanüle wird in ein Labor geschickt, um den PSA-Wert zu ermitteln. PSA steht für Prostata-spezifisches Antigen – ein Eiweiß, das ausschließlich von Zellen der Prostata produziert wird. Ist der PSA-Wert erhöht, kann das ein Hinweis auf einen Tumor in der Vorsteherdrüse sein.

Graefen ist 50. Ab diesem Alter wird Männern die Prostatavorsorge empfohlen. Er ist zudem Urologe am Prostatakrebszentrum des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf und weiß, dass der PSA-Wert Leben retten kann.

Als mit dem PSA-Test in den 80er-Jahren ein Instrument zur Früherkennung gefunden wurde, war dies ein großer Erfolg. Denn wird die Erkrankung frühzeitig erkannt, muss man nicht daran sterben. Dann kamen Zweifel an der Aussagekraft des PSA-Wertes auf.

Eine Studie mit folgenschwerem Fehler

Eine groß angelegte Studie in den USA brachte vor sieben Jahren niederschmetternde Ergebnisse. Doch wie sich jetzt herausstellte, war sie fehlerhaft. Für Graefen ist es ein Rätsel, wie das passieren konnte. Michael Stöckle vom Universitätsklinikum des Saarlandes sieht darin sogar "den größten Wissenschaftsskandal" der Urologie.

Die US-Studie klang schlüssig. Sie umfasste mehr als 76.000 Männer, die in zwei Gruppen eingeteilt wurden: Die eine hatte sich regelmäßig einem PSA-Test unterzogen, die Kontrollgruppe angeblich nicht. Knapp sieben Jahre später verglich man deren Sterbequoten. "Wir konnten nicht nachweisen, dass der PSA-Test Leben gerettet hat", sagte damals Studienleiterin Christine Berg vom National Cancer Institute. Die Fachwelt war ernüchtert, hatte doch erst kurz zuvor eine europäische Studie mit 180.000 Männern eine Halbierung des Sterberisikos durch den PSA-Test ergeben.

Als sich jetzt zwei US-Urologen die Studie noch einmal vornahmen, entdeckten sie einen folgenschweren Fehler über den sie im "New England Journal of Medicine" berichten. Offenbar hatte ein Großteil der Kontrollpersonen den PSA-Test dennoch durchführen lassen, obwohl man ihnen explizit nicht dazu geraten hatte. Man war einfach davon ausgegangen, dass sie dies ohne Empfehlung nicht tun würden. Am Ende ließen ihn neun von zehn Männer durchführen. "Unter diesen Umständen ist es nicht verwunderlich, dass man keinen Unterschied in der Prostatasterblichkeit finden konnte", sagt Markus Graefen.

Die Mogelei der Forscher hatte enorme Auswirkungen auf die Männergesundheit. Aufgrund der Studie riet die USP-Taskforce, eine maßgebliche Institution für die öffentliche Vorsorge in den USA, ausdrücklich vom PSA-Test ab. Der Bluttest verschwand aus dem flächendeckenden Krebsscreening. Mit der Folge, dass seitdem über 30 Prozent weniger Prostatatumore entdeckt worden sind.

Kassenpatienten müssen den Test hierzulande selbst zahlen

Es ist ein heimtückischer Krebs. Im Frühstadium verursacht er lange Zeit keinerlei Symptome. Wenn dann Beschwerden auftreten, ist es für eine Heilung oft zu spät. Haben sich Metastasen in den Lymphknoten und im Skelett bereits gebildet, ist der Kampf gegen die Erkrankung nahezu aussichtslos.

"Hochrechnungen gehen davon aus, dass der nicht mehr durchgeführte PSA-Test bis 2025 etwa 60.000 amerikanischen Männern das Leben kosten wird", sagt Stöckle. Und das sei nur die Spitze des Eisbergs, denn die Vorbehalte der USA gegenüber dem PSA-Test hätten sich auch auf den Umgang mit ihm in anderen Ländern ausgewirkt. In Deutschland etwa mussten Kassenpatienten den PSA-Test immer schon selber bezahlen, was die Bereitschaft ihn durchzuführen, nicht gerade fördert. Die US-Studie bremste die Nachfrage noch zusätzlich.

Graefen und Stöckle fordern, dass der PSA-Test von der Taskforce neu bewertet wird. Es gibt Hinweise, dass dies schon bald geschehen wird – ohne die üblichen bürokratischen Umwege. Denn von der fehlerhaften Studie abgesehen überwiegen die positiven Belege für das PSA-Screening in der Krebsvorsorge.

Gleichwohl besteht bei jedem Früherkennungsprogramm die Gefahr, dass man über das präventive Ziel hinausschießt. "Es kann Befunde geben, deren Nichtentdeckung und Nichtbehandlung den Patienten nicht geschadet hätten", sagt Stöckle. So ziehen auch harmlose Entzündungen oder sehr langsam wachsende Prostatageschwüre den PSA-Wert nach oben, die kein Grund für Operationen oder andere invasive Therapien sind. Hier liegt es am Arzt, nicht vorschnell für Unruhe zu sorgen.

Vor dem Test sollte man weder Sex haben noch Radfahren

"Die Probleme liegen weniger im PSA-Wert als in den Schlüssen, die man aus ihm zieht", sagt Graefen. Sein eigener PSA-Wert, den er erst kürzlich hat testen lassen, war knapp unter einem Nanogramm pro Milliliter (ng/ml). "Bis zur nächsten Untersuchung habe ich vier Jahre lang Ruhe."

Die früher übliche Empfehlung eines alljährlichen Tests gilt mittlerweile als überholt. Erst ab einem Wert von über 2 ng/ml rät Graefen, den Test im folgenden Jahr zu wiederholen. Bei einem Wert über 4 ng/ml sollte schon vier Wochen später ein weiterer Test erfolgen. Zu beachten ist dabei, dass man vor der Blutabnahme weder Sex haben noch Radfahren sollte. Denn jede Manipulation an der Prostata kann den PSA-Wert nach oben treiben.

Ist der Wert auch beim zweiten Test deutlich erhöht, besteht Verdacht auf Prostatakrebs. Dann müssen zur endgültigen Klärung weitere Diagnosemethoden eingesetzt werden – Ultraschalluntersuchungen und die Entnahme einer Gewebeprobe. Ein auffälliger PSA-Wert kann immer noch eine andere Ursache haben. Ein niedriger PSA-Wert signalisiert dagegen Entwarnung. "PSA ist etwas, das sehr beruhigend sein kann", sagt Graefen. Jeder, der dem dem Test skeptisch gegenübersteht, sollte das bedenken.

Quelle : welt.de

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