77 Stunden quer durch Europa

  06 Januar 2017    Gelesen: 1024
77 Stunden quer durch Europa
Wo war Anis Amri wann? Die Ermittler können die Spur des Berlin-Attentäters durch mehrere europäische Städte verfolgen. Wichtige Fragen aber sind noch offen. Ein Überblick.
Rund zwei Wochen nach dem Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt und dem Tod des Attentäters Anis Amri sind viele Details zu möglichen Helfern und Mitwissern noch immer unklar. Am Donnerstag befasst sich der Innenausschuss des nordrhein-westfälischen Landtags mit dem Fall. Der Terrorist stand vor der Tat mit mehreren Leuten in Kontakt, bislang haben die Indizien aber nicht für einen Haftbefehl gegen diese Personen gereicht.

Immer mehr Einzelheiten werden zu Amris Verhalten vor der Tat und während der Flucht bekannt. Der Überblick:

Anis Amri hält sich nach Erkenntnissen der Ermittler ungefähr seit 14. Dezember in Berlin auf. Das hat offenbar die Auswertung seines Handys ergeben, das am Tatort Breitscheidplatz gefunden wurde.

Am 18. Dezember, dem Vorabend des Anschlags, trifft sich Amri in einem Restaurant in der Berliner Pankstraße mit Bilel A. Das haben die Ermittler auf Grund eines Hinweises rekonstruiert. Amri soll seinen tunesischen Landsmann A. seit spätestens Ende 2015 gekannt haben. Im November 2015 hatte die Berliner Polizei A. vorläufig festgenommen, weil er im Verdacht stand, eine schwere staatsgefährdende Straftat vorzubereiten. Das Verfahren wurde eingestellt. Erst nach dem Anschlag vom Breitscheidplatz ist A. als Gefährder eingestuft worden. Seit Dienstag sitzt er in Untersuchungshaft, wegen Verdachts auf Sozialbetrug.

Am Vor- und Nachmittag des 19. Dezember versucht Amri mehrfach telefonisch einen früheren Mitbewohner zu erreichen, mit dem er sich im Herbst 2016 ein Zimmer in Berlin-Gesundbrunnen teilte. Ob die beiden Männer miteinander sprechen, ist unklar.

Am Nachmittag des 19. Dezember hält sich Amri am Friedrich-Krause-Ufer auf. Offenbar kennt Amri das Gelände am Berliner Westhafen genau und weiß, dass dort regelmäßig schwere Lastwagen parken. Ganz in der Nähe befindet sich nicht nur die Fussilet-Moschee, die Amri mehrfach besuchte. Auf einer Brücke nahe dem Hafen nahm Amri offenbar schon Wochen vor der Tat auch ein Video auf, in dem er sich zum IS bekannte.

An dem Ufer überwältigt er nachmittags Lukasz U., den polnischen Fahrer eines Sattelzugs, und bringt das Fahrzeug unter seine Kontrolle. Amri unternimmt Fahrversuche mit dem Lkw, dann begibt er sich zur Fussilet-Moschee, die sich nur wenige hundert Meter entfernt in der Perleberger Straße befindet. Gegen 19.30 Uhr kehrt er zum Friedrich-Krause-Ufer zurück. Dort gibt er nach Erkenntnissen der Ermittler auch den tödlichen Kopfschuss auf U. ab - allerdings ist nicht abschließend geklärt, ob U. möglicherweise bereits am Nachmittag erschossen wurde.

Über den Messengerdienst Telegram schickt Amri ein Foto aus dem Führerhaus und eine Sprachnachricht an mehrere Personen in Berlin und dem Ruhrgebiet: "Mein Bruder, alles in Ordnung, so Gott will. Ich bin jetzt im Auto, bete für mich, mein Bruder, bete für mich."

Gegen 20 Uhr rast Amri mit dem Truck auf den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz und tötet elf Menschen. Nach rund 70 Metern kommt das Fahrzeug zum Stehen - offenbar gebremst durch die Unfallautomatik des Lkw. Amri flüchtet.

Kurz nach dem Anschlag wird der Terrorist am Bahnhof Zoo von einer Videokamera erfasst. Die Ermittler gehen davon aus, Amri habe gewusst, dass er gefilmt wird. Der Tunesier habe mit dem sogenannten Tauhid-Finger posiert - dem erhobenen Zeigefinger, der als Erkennungsmerkmal der Terrororganisation "Islamischer Staat" (IS) gilt.

Wo genau war Amri in den folgenden Stunden und Tagen? Am Bahnhof Zoo verliert sich zunächst die Spur des Attentäters. Weil er sein Handy nicht mehr dabeihatte, lassen sich seine Bewegungen nicht genau nachverfolgen. Am Nachmittag des 20. Dezember loggt sich jemand von Nordrhein-Westfalen aus in Amris Facebook-Profil ein und löscht dieses - höchstwahrscheinlich der Attentäter selbst.

Flucht ins Ausland

Von dort führt der Fluchtweg weiter ins Ausland. Unklar ist noch, welches Endziel Amri hatte.

Am 21. Dezember wird er auf dem Bahnhof der niederländischen Stadt Nimwegen gegen 11.30 Uhr gefilmt. Dort kauft Amri offenbar auch eine Sim-Karte, die italienische Ermittler Tage später in seinem Rucksack finden - noch eingeschweißt. Um 13.20 Uhr wird Amri auf dem Hauptbahnhof in Amsterdam von einer Überwachungskamera gefilmt. Dort besteigt er einen Zug nach Brüssel. Gegen 19 Uhr trifft er am Bahnhof Brüssel-Nord ein - auch hier filmt ihn eine Kamera.

Die Ermittler vermuten, dass Amri per Fernbus über die französische Grenze nach Lyon weiterreist. Am 22. Dezember erfasst ihn eine Kamera auf dem Bahnhof Part-Dieu. Nach Erkenntnissen französischer Ermittler kauft der Terrorist dort gegen 13 Uhr ein Zugticket nach Mailand, mit Umstieg in Chambéry.

Auf dem dortigen Bahnhof wird Amri nicht gefilmt. Die Ermittler erklären das damit, dass die Station nicht flächendeckend von Kameras überwacht wird. Sie gehen aber davon aus, dass Amri in Chambéry planmäßig in einen Zug nach Turin umsteigt. Dort wird der flüchtige Täter um 22.14 Uhr auf dem Bahnhof Porta Nuova von einer Überwachungskamera gefilmt. Er steigt um in einen Zug nach Mailand.

Am 23. Dezember um 0.58 Uhr nimmt ihn eine Überwachungskamera auf dem Mailänder Hauptbahnhof auf. Es ist zu erkennen, dass sich Amri Richtung Ausgang bewegt. Etwas mehr als zwei Stunden später stoppen ihn zwei Polizisten, als er den Vorstadtbahnhof Sesto San Giovanni verlässt. Die Beamten wollen den Ausweis des Mannes sehen, er eröffnet sofort das Feuer und trifft einen Polizisten an der Schulter. Es ist dieselbe Waffe, mit der auch der Truckfahrer Lukasz U. getötet wurde. Die Polizisten schießen zurück, Amri wird tödlich getroffen.

Nach 77 Stunden endet seine Flucht quer durch Europa.

Quelle : spiegel.de

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