Zuhälterei-Anklage gegen Mutter

  18 Januar 2017    Gelesen: 485
Zuhälterei-Anklage gegen Mutter
Die Mutter soll ihre Tochter als Prostituierte verkauft, der Lebensgefährte die 16-Jährige und ihre Schwester missbraucht haben: Am Landgericht Hildesheim beginnt ein Prozess, der Einblick in familiäre Abgründe gibt.
Im Juli 2013 ging Jacqueline G. in Hildesheim zur Polizei. Die damals 16-Jährige erzählte einer Beamtin, seit einem halben Jahr werde sie zur Prostitution gezwungen; zudem habe ein Mann sie mehrfach vergewaltigt.

Die Jugendliche berichtete auch, wer für ihr Leid verantwortlich sei: ihre Mutter Nicole G., die sie zum Anschaffen zwinge. Der Vergewaltiger sei Clemens F., Lebensgefährte der Mutter. Später sagte Jacqueline G., der Mann habe auch ihre damals elfjährige Schwester Angelique missbraucht.

Am Mittwoch beginnt am Landgericht Hildesheim der Prozess gegen Nicole G. und Clemens F., die Anklage lautet auf Zuhälterei und sexuellen Missbrauch von Kindern.

"Ich würde meiner Mandantin raten, sich einzulassen", sagt Anwalt Henning Sonnenberg, Pflichtverteidiger der Mutter. Der Hintergrund: Bei der Bemessung des Strafmaßes werten Gerichte es positiv, wenn ein Geständnis es den Opfern erspart, vor Gericht furchtbare Erfahrungen in der persönlichen Befragung noch einmal durchleben zu müssen.

Mutter soll mit Freiern verhandelt und das Geld eingesteckt haben

Und furchtbare Erfahrungen hatten die Mädchen laut Anklage viele. Die Mutter soll von 2012 bis Juli 2013 ihre ältere Tochter als Prostituierte auf diversen Internetportalen angeboten haben. Dabei soll Nicole G. mit Freiern verhandelt, Termine organisiert, Kondome und Wäsche für Jacqueline bereitgestellt und das gesamte Geld eingesteckt haben.

Als die Sache begann, war das Mädchen laut Anklage 15 Jahre alt. Die Mutter soll mit dem Rauswurf gedroht haben, falls Jacqueline sich weigere, Freiern zu Diensten zu sein. Die Mutter soll zudem gebilligt und gefördert haben, dass ihr Lebensgefährte F. sich an ihren Töchtern verging. Bei den Übergriffen soll Nicole G. sogar anwesend gewesen sein. Jacqueline soll dabei so betrunken gewesen sein, dass sie sich nicht wehren konnte.

Nach Informationen von SPIEGEL ONLINE bestreiten die Angeklagten die Vorwürfe; Nicole G. soll lediglich einen Sexualkontakt zwischen F. und Jacqueline zugegeben haben. Nachdem sie zur Polizei gegangen war, verließ die ältere Tochter die Familie. Ihre jüngere Schwester wohnte ohnehin bei ihrem Vater.

Mutter als Zuhälterin? "Das ist wirklich selten"

2015 wurden laut dem Lagebild Menschenhandel des Bundeskriminalamtes (BKA) 77 minderjährige Opfer erfasst, die sexuell ausgebeutet wurden. Knapp die Hälfte davon waren Deutsche. Ermittler gehen indes von einem großen Dunkelfeld aus. "Je älter die Kinder, desto wahrscheinlicher ist es, dass etwas herauskommt", sagt Mechtild Maurer, Geschäftsführerin von Ecpat Deutschland, einer Arbeitsgemeinschaft zum Schutz der Kinder vor sexueller Ausbeutung. Teenager seien eher in der Lage, sich etwa an die Polizei zu wenden.

Im Vergleich dazu sei man bei Kindern im Grundschulalter "auf Zufall und Hinweise angewiesen". In diesen Fällen seien Täter und Opfer gleichermaßen abgeschottet - anders als etwa bei Jugendlichen, die online als Prostituierte angeboten würden.

2015 wurden laut Bundeskriminalamt (BKA) 11.808 Fälle des sexuellen Missbrauchs von Kindern erfasst. Experten schätzen, dass rund drei Viertel der Täter aus dem sozialen Umfeld der Opfer kommen: Angehörige, Freunde, Bekannte. Insofern passt der Fall ins gängige Muster.

Dass eine Mutter eine so aktive Rolle gespielt haben soll wie Nicole G., ist indes äußerst ungewöhnlich. "Das ist wirklich selten", sagt Maurer. Bei Tätern aus dem familiären Umfeld handle es sich meist um Männer und nicht unmittelbar nahestehende Personen: Stiefbrüder etwa oder Onkel.

Es sei nichts Neues, "dass Mütter es stillschweigend geduldet haben, wenn ihr Kind missbraucht wird", sagt auch Vera Falck, Geschäftsführerin des Vereins Dunkelziffer, der sich für minderjährige Opfer sexueller Gewalt einsetzt. Inzwischen sei aber zu beobachten, dass Mütter in solchen Fällen zunehmend eine aktive Rolle einnähmen.

Drei Jahre zwischen Anklage und Prozessbeginn

Der Fall in Hildesheim findet auch Beachtung, weil die vorgeworfenen Taten schon so lange zurückliegen. Die ältere Tochter ging bereits im Juli 2013 zur Polizei, Anfang März 2014 erhob die Staatsanwaltschaft Hildesheim Anklage. Jahre vergingen, Jacqueline wurde volljährig, bei Gericht tat sich - nichts.

Andrea Wegert findet das "für den Opferschutz unfassbar". Die Anwältin vertritt in dem Verfahren die Töchter, die als Nebenklägerinnen auftreten. Wenn drei Jahre zwischen Anklage und Prozessauftakt vergingen, "wer erstattet denn da noch Anzeige?". Eine derart lange Wartezeit sei "eine Katastrophe, das kann man keinem Opfer verdeutlichen". Dem Gericht macht die Anwältin keinen Vorwurf. "Die Justiz ist überlastet. Die Kammer ist für Haftsachen zuständig, das geht vor, weil die Angeklagten sonst freigelassen werden müssen."

Das Landgericht widerspricht allerdings dem Bild genereller Überlastung. "Es ist ein bedauerlicher Fall, aber ein Einzelfall", sagt Gerichtssprecher Philipp Suden. Die Verfahrenslaufzeit am Gericht sei tatsächlich sehr lange gewesen. Die Jugendschutzkammer bearbeite auch Jugendhaftsachen - und für die gelte der Grundsatz des beschleunigten Verfahrens, weil Sanktionen bei Vergehen Jugendlicher schnell erfolgen sollten. Dieser Grundsatz greife in dem Fall aber nicht, weil das mutmaßliche Opfer, nicht aber die Angeklagte minderjährig sei.

Eine zweite Kammer des Landgerichts bearbeitet nun ebenfalls Jugendschutzsachen. Eine Reaktion, immerhin. Für Jacqueline und Angelique G. kommt sie zu spät.

Quelle : spiegel.de

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