Knapp zehn Stunden zuvor war die Maschine, eine Boeing 747SP in Taipeh gestartet. Flugkapitän Ho Min-Yuan hatte vor Beginn des Fluges routinemäßig das Logbuch der 747 überprüft. Es wies zwei Eintragungen auf: Triebwerk Nummer 4 hatte sowohl am 15. als auch am 18. Februar, also einen Tag zuvor, in großer Höhe jeweils an Schubkraft verloren und danach nicht mehr auf den Schubhebel reagiert. In beiden Fällen konnte jedoch nach einem Abstieg in niedrigere Höhen problemlos neu gestartet und der Fehler behoben werden.
Also kein Grund zur Besorgnis. Der Flugkapitän und sein Co-Pilot Chang Ju-Yu haben die Maschine schon über Stunden dem Autopiloten anvertraut, und das große Flugzeug zieht rund 480 Kilometer nordwestlich von San Francisco sicher und ruhig seine Bahn über den Weiten des Pazifik. Die Passagiere haben ihr Frühstück bereits hinter sich, es ist kurz nach 10 Uhr und nichts deutet darauf hin, dass diese einschläfernde Ruhe, mit der das Flugzeug seinem Ziel entgegenfliegt, in wenigen Minuten ein abruptes Ende finden wird.
Mit Turbulenzen beginnt der Alptraum
Um 10.10 Uhr trifft das Flugzeug auf leichte Turbulenzen. Dies bewirkt zweierlei: Erstens reagiert der Flugkapitän routinemäßig und lässt aus Sicherheitsgründen die "Fasten Seatbelts"-Anzeigen einschalten - was sich in den folgenden Minuten als eine äußerst glückliche Entscheidung erweisen wird. Zweitens setzt der Autopilot die Ruder der Maschine in Bewegung und verändert die Schubstärke der vier Triebwerke, um die durch die Turbulenzen verursachten Abweichungen auszugleichen.
Während dieser normalerweise unmerklichen Manöver fährt der Autopilot um 10.11 Uhr die Schubhebel bis zur Leerlaufstellung zurück, weil die Fluggeschwindigkeit aufgrund heftiger Rückenwinde beträchtlich zugenommen hat, gibt aber gleich darauf neuen Schub, weil Sekunden später die Geschwindigkeit wegen Gegenwindes zu weit abgefallen ist. Dabei bewegt sich jedoch der Schubhebel für das äußere rechte Triebwerk Nummer 4 nicht mit nach vorn. Die Turbine bleibt im Leerlauf hängen.
Bordingenieur Wei Kuo-Pin bemerkt dies und versucht, die Drehzahl des Triebwerkes mit dem Schubhebel manuell zu variieren - ohne Erfolg. Der Bordingenieur vermutet einen kompletten Triebwerkstillstand. Dieses an und für sich unbedeutende Problem, das wegen der enormen Leistungsreserven der 747-Motoren im Betriebshandbuch nicht einmal als Notfall klassifiziert wird, ist der erste Mosaikstein für das nun folgende Desaster.
Triebwerke im Leerlauf
Der Bordingenieur informiert umgehend den Flugkapitän über den vermeintlichen Stillstand des Triebwerks, und die zuständige Flugkontrolle in Oakland wird um Genehmigung zum Sinkflug ersucht, denn um die Turbine wieder anlassen zu können, muss das Flugzeug seine derzeitige Flughöhe in dünner Atmosphäre verlassen.
Um 10.15 Uhr weist der zuständige Fluglotse 9000 Meter an, aber er bekommt schon keine Antwort mehr. Sechsmal versucht er, die Maschine zu erreichen. Vergeblich. Denn inzwischen ist die Geschwindigkeit der 747 weiter zurückgegangen, und der Flugkapitän schaltet die Höhenkontrolle des Autopiloten aus, um die niedrigere Flughöhe aufsuchen zu können. Dabei vergisst er oder ignoriert, dass das automatische Trägheitsnavigationssystem noch in Funktion bleibt. So beginnt die Maschine, wegen des ausgefallenen Steuerbordtriebwerks nach rechts zu ziehen. Nachdem er dies bemerkt, stellt er den Autopiloten komplett ab, ohne die Trimmung zu korrigieren. Und löst damit ein verhängnisvolles Flugmanöver aus, das seinesgleichen in der Luftfahrtgeschichte sucht.
Die Maschine legt sich mit 63 Grad nach Steuerbord auf die Seite und geht in den Sturzflug über. In einer Höhe von 11.300 Metern taucht sie in die Wolken ein - die Cockpitcrew verliert die räumliche Orientierung. Die drei restlichen Triebwerke fallen in den Leerlauf zurück, die riesige Boeing geht mit 67 Grad Neigung nach unten und dreht sich dabei fast auf den Rücken. In Spiralen geht es dem Pazifik entgegen.
Geschirr kracht gegen Wände, Flugzeugteile fetzen ab
Durch die enormen Beschleunigungskräfte ist die Cockpitcrew kaum noch in der Lage, Arme oder Beine koordiniert zu bewegen. Die verzweifelten Versuche, die Schalter und Hebel der 747 zu erreichen, sind zum Scheitern verurteilt. Auch die wild ausschlagenden und sich ständig verändernden Instrumente können nicht mehr abgelesen-, geschweige denn die geeigneten Gegenmaßnahmen getroffen werden.
Zweimal erreicht das Flugzeug während des Sturzfluges Geschwindigkeiten, die den Konstrukteuren der Maschine das Blut in den Adern hätten gefrieren lassen. Die höhere der beiden liegt bei Mach 0,99, also nur 16 Kilometer pro Stunde unter der Schallgeschwindigkeit und damit weit über derjenigen, die für die 747 einst als gefahrloser Maximalwert angesetzt worden war.
Die meisten Passagiere haben zu diesem Zeitpunkt mit ihrem Leben abgeschlossen. Die Sekunden dehnen sich zu Minuten, und obwohl nach Auswertung der Flugdatenschreiber festgestellt wird, dass der Sturzflug nur zwei Minuten dauerte, erleiden die Passagiere Qualen, die sich nach Stunden anfühlen. Dabei haben sie noch Glück im Unglück, denn sie können nicht sehen, wie außen - verursacht durch die heftigen Vibrationen oder wegfetzende Fahrwerksteile - immer wieder große Stücke des Flugzeugs abreißen. Doch auch im Flugzeug geht es wüst zu. Geschirr kracht gegen die Wände und auf den Boden; durch die Vibration brechen Glasscheiben, und man kann sogar vereinzelt hören, wie Nieten wegplatzen. Der Lärm ist kaum auszuhalten.
Zehn Kilometer Fall in zwei Minuten
Weil durch die enormen Fliehkräfte das Fahrwerk herausgeschleudert wird, verlangsamt sich aufgrund des erhöhten Luftwiderstands jedoch der Sturz. In 3300 Metern Höhe wird zudem die Wolkenunterkante durchbrochen, und mit der wiedergewonnenen räumlichen Orientierung schaffen die Männer im Cockpit es schließlich, die Maschine 40 Sekunden vor dem Aufschlag auf dem Pazifik in einen relativ stabilen Horizontalflug zu bringen.
Der Cockpitcrew gelingt es nun auch, die vier Triebwerke wieder auf Touren zu bringen. Erst danach kann der Bordingenieur um 10.17 Uhr der Flugkontrolle melden, dass die Boeing 747 sich momentan in 2700 Metern Höhe befindet. Das Flugzeug war somit in lediglich knapp zwei Minuten fast zehn Kilometer tief gefallen! Der Bordingenieur teilt dem besorgten Fluglotsen mit, dass es einen Notfall gegeben habe, die Situation sei aber nunmehr wieder unter Kontrolle. Der Bordingenieur stellt jetzt auch anhand der Kontrolllampen fest, dass das Fahrwerk selbsttätig ausgefahren und verriegelt ist und dass die Hydraulikflüssigkeit des Hauptsystems komplett ausgelaufen ist.
Der Flugkapitän entscheidet sich deshalb dafür, nicht weiter nach Los Angeles zu fliegen, sondern den nächstgelegenen Flughafen, San Francisco, anzusteuern. Nach einem langen, sanften Sinkflug landet die Maschine ohne weitere Vorkommnisse sicher.
Zerfranste Leitwerke, verbogene Flügel
Die Passagiere klatschen frenetisch, nicht wissend, dass der Flugkapitän sie in diese missliche Lage gebracht hatte. Aber vielleicht gilt der Beifall auch nur den Konstrukteuren der überaus belastbaren Boeing 747, die ihn wahrhaftig verdient haben. Wie durch ein Wunder gibt es nur 51 Leichtverletzte.
Ganz anders ist es der braven Boeing 747 ergangen, denn die ungeheuren Kräfte haben der Maschine arg zugesetzt: Drei Meter vom rechten Höhenruder sind weggebrochen. Das linke ist ebenfalls kürzer, wenn auch "nur" um eineinhalb Meter. Die Querruder sind an mehreren Stellen gebrochen. Vom Seitenruder fehlen ganze Teile. Die Abdeckklappen der Radkästen sind aus den Verankerungen gedreht worden und verschwunden. Die riesigen Tragflächen sind am Ende der Flügelspitzen um bis zu acht Zentimeter nach oben gebogen. Das Hilfstriebwerk der Maschine hat sich aus seinen Befestigungen gerissen und rollt lose im Heck der Maschine herum.
Die geplante Belastungsgrenze des Jumbos hatten die Konstrukteure einst bei ungefähr zweieinhalbfacher Erdbeschleunigung angesetzt. Die tatsächliche Belastung war mehr als doppelt so hoch gewesen (plus 5,1 g bis minus 4 g), so hoch, dass der Flugdatenschreiber zeitweise nicht mehr aufzeichnen konnte.
Nie zuvor hat es nach Wissen der Experten einen Fall gegeben, in dem ein so großes Flugzeug derart hohen Erdbeschleunigungskräften ausgesetzt war, dass das Fahrwerk allein aufgrund der Fliehkraft durch die geschlossenen Klappen hindurch ausgefahren wurde. Fachleute fassen nach Auswertung der Flugschreiber und bei der Betrachtung der schwer lädierten Boeing 747 ein einhelliges Urteil: Es grenzt an ein Wunder, dass die große Maschine bei diesen Belastungen nicht auseinandergebrochen ist.
Jochen W. Braun war schon immer Luftfahrt-Fan. Doch seiner Leidenschaft stand etwas im Weg: Er hatte panische Flugangst. Um die zu bekämpfen, begann der Diplomkaufmann eine beispiellose Therapie: Er wertete mehr als 45.000 Luftfahrtzwischenfälle aus. Dabei stieß er auf zahlreiche spektakuläre Unglücke, bei denen wie durch ein Wunder alle Passagiere überlebten. einestages präsentiert seine spannendsten Geschichten.
Quelle : spiegel.de
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