Tod eines Jungen aus der Nachbarschaft

  28 November 2019    Gelesen: 804
Tod eines Jungen aus der Nachbarschaft

Der gewaltsame Tod des 18-jährigen Dilan Cruz bei den Protesten in Kolumbien setzt die konservative Regierung unter Druck: Die Jugend des Landes fordert einen radikalen Kurswechsel.

Tagelang hatten sie gebetet. Sie hatten sich umarmt, gemeinsam gesungen und sich gegenseitig Hoffnung gemacht. Kolumbien blickte auf das Krankenhaus San Ignacio in der Hauptstadt Bogotá, in dem der Schüler Dilan Cruz seit Samstag mit dem Tod rang. Vor dem Hospital standen unzählige Menschen und bangten um sein Leben. Der 18-Jährige wurde während der Proteste und Massenkundgebungen von einer Tränengasgranate am Kopf getroffen, abgefeuert von einem Mitglied der Bereitschaftspolizei Esmad. Vielleicht sogar absichtlich, wie im Netz kursierende Handyvideos nahelegen.

Hunderte Kerzen brannten vor dem Krankenhaus, Botschaften wurden auf bunte Zettel und Plakate geschrieben. "Esmad Mörder" oder "Stoppt die Gewalt" war darauf zu lesen. Es schien, als würde sich der Protest, der das südamerikanische Land seit Tagen erschüttert, ganz auf das Schicksal von Dilan Cruz konzentrieren.

In der Nacht zu Dienstag erlag Cruz seinen schweren Verletzungen. Damit haben die Demonstrationen einen Namen bekommen. Den eines Schülers, der gestorben ist, weil er für eine bessere Bildungspolitik auf die Straße ging. Das Opfer stammt aus der Mitte der Gesellschaft, Dilan war ein Junge aus der Nachbarschaft, anders als die vielen getöteten Menschenrechtsaktivisten und Indigenen, die draußen auf dem Land, kaum beachtet von der urbanen Öffentlichkeit Bogotás, seit Jahren ermordet werden. Sie sterben, weil sie sich dem Milliardengeschäft Kokain in den Weg stellen, die Eigentumsrechte der armen Bevölkerung gegen Großgrundbesitzer verteidigen wollen oder einfach nur großen Bauprojekten im Weg stehen.

Mehrere Hunderttausend Menschen sind in den Tagen zuvor auf die Straße gegangen. Der überwiegende Teil sind junge Kolumbianerinnen und Kolumbianer, die vom konservativen Präsidenten Iván Duque einen Kurswechsel fordern: in der Sozialpolitik, in der Friedenspolitik, in der Wirtschaftspolitik. Sie wollen eine andere Gesellschaft.

Ob der junge Präsident dazu in der Lage ist, diese Forderungen zu verstehen, geschweige denn umzusetzen, bleibt abzuwarten. Duque gilt als ein Stellvertreter des Istzustands, als Statthalter des vom linken Kolumbien verhassten und immer noch einflussreichen Ex-Präsidenten Álvaro Uribe, der das Land zwischen 2002 und 2010 regierte und die rechtskonservativen, teils rechtsextremen Kräfte wie ein Übervater bündelt und steuert.

Trotz seiner erst 43 Jahre wirkt Duque wie ein Politiker aus der Vergangenheit, aus dem Zeitalter des vor drei Jahren beendeten Bürgerkriegs mit der linksgerichteten Ex-Guerilla Farc. Soziale Bewegungen betrachtet er noch immer als verlängerten Arm der Rebellen, die es weiterhin zu bekämpfen gilt. Der junge Präsident steht für das alte Kolumbien. Der populäre Karikaturist "Matador" zeichnet ihn wegen seiner gedrungenen Figur als ein kleines Schweinchen, das hilflos durchs Weltgeschehen tappt. "Porky" nennen ihn seine Kritiker.

Der Fall Dilan Cruz ist symptomatisch für den Umgang des kolumbianischen Staats mit den sozialen Unruhen, die Wut gegen Repressalien und politische Ignoranz wächst. "Wir haben keine Angst mehr", ruft eine Gruppe junger Demonstrantinnen im "Park der Hippies" im Zentrum Bogotás. Tausende Menschen stimmen in ihre Proklamation ein. Angst, Panik, Unterdrückung, das sind die bestimmenden Worte dieses Protests. Die für die Niederschlagung von Aufständen verantwortliche Polizeieinheit Esmad ist das erklärte Ziel der Kritik.

Studentin Franziska, die sich ihre Verzweiflung von der Seele trommelt, fasst die Stimmung unter den Demonstrierenden so zusammen: "Wir fordern soziale Gerechtigkeit, einen fairen Mindestlohn und ein Ende der Gewalt." Und weil sie und ihre Mitstreiter Duque nicht mehr zutrauen, sich dafür einzusetzen, fordert sie dessen Rücktritt.

Der Präsident versucht zumindest, auf diese steigende Wut schnell zu reagieren. Am Dienstagmorgen, wenige Stunden nach Bekanntwerden von Dilans Tod, traf sich Duque mit Vertretern sozialer Bewegungen, Gewerkschaften und den Organisatoren des fortwährenden Generalstreiks. Er wolle Räume für einen Dialog öffnen, an dem sich alle beteiligen könnten, sagte er. Gleichzeitig flogen Polizeihubschrauber über die Stadt. Die Stimmung bleibt angespannt, denn Duques Kritiker wollen sich nicht mit bloßen Versprechungen abspeisen lassen: Sie fordern Ergebnisse. Die Organisatoren des Streiks kündigten an, notfalls einen unbefristeten Ausstand auszurufen, wenn sich nichts ändert. Seit Montagabend, seit dem Tod von Dilan Cruz, geht es nun endgültig nicht mehr nur um Zugeständnisse, es geht um ein ganz anderes Kolumbien.

spiegel


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