Börsen drohen trotz neuer Geldspritzen Entzugserscheinungen

  20 Januar 2020    Gelesen: 956
Börsen drohen trotz neuer Geldspritzen Entzugserscheinungen

London (Reuters) - An der Börse klafft zwischen Wunsch und Wirklichkeit derzeit eine große Lücke: Die großen Notenbanken werden in diesem Jahr zur Ankurbelung der Konjunktur zwar wieder mehr Geld in die Finanzmärkte pumpen.

Allerdings hoffen Anleger nach Einschätzung von Börsenexperten auf deutlich höhere Summen als EZB, Fed & Co. bislang signalisiert haben. Die großen Zentralbanken wollen in den kommenden Monaten über Wertpapierkäufe, Zinssenkungen oder niedrigere Mindestanforderungen für Einlagen der Geldhäuser etwa 1,23 Billionen Dollar zusätzlicher Gelder freisetzen, rechnet Steve Donze, Anlagestratege vom Vermögensverwalter Pictet vor. 2019 seien es gerade einmal 370 Milliarden Dollar gewesen.

Investoren rechneten aber offenbar mit einer doppelt so hohen Dosis, sagt Donze weiter. Denn um das aktuelle Rekordhoch des MSCI-Weltindex zur rechtfertigen, müssten in den kommenden Monaten 2,4 Billionen Dollar zusätzlich in die Finanzmärkte fließen. Die Kluft zwischen den Signalen der Notenbanken und den Markterwartungen sei so groß wie zuletzt 2008. Daher drohe den Aktienmärkten ein Rückschlag von zehn Prozent. Auch aus Sicht des Fondsmanagers Jon Jonsson vom Vermögensverwalter Neuberger Berman wird die Luft für die Börsen dünner. Zwar hätten Notenbanken ihre Zinsen gesenkt. Dadurch wachse aber die Hürde für weitere Kursschübe durch zusätzliche geldpolitische Maßnahmen. Stattdessen müsse mit drastischeren Kursausschlägen gerechnet werden.

STARKES BÖRSENJAHR 2019 - NOTENBANKEN ALLEINIGE KURSTREIBER

Im vergangenen Jahr legten der deutsche Dax und der pan-europäische EuroStoxx50 ebenso wie der US-Standardwerteindex Dow Jones und der MSCI-Weltindex rund 25 Prozent zu - so stark wie seit Jahren nicht. Gleichzeitig eilten die beiden letzteren Indizes von Rekord zu Rekord. Dem Dax fehlen bis zu einer neuen Bestmarke derzeit nur etwa 200 Punkte. Rund 90 Prozent dieser Rally gehe wie in den Jahren zuvor auf das Konto der Zentralbanken, sagen die Experten von Pictet. Schließlich hätten sie seit der Finanzkrise 2008 jährlich etwa 1,3 Billionen Dollar in die Finanzmärkte gepumpt.

Bei manchen Marktbeobachtern klingen deshalb die Alarmglocken. “Liquiditätsgetriebene Märkte finden meist ein böses Ende”, sagen die Analysten des Research-Hauses CrossBorder. “Die Kernfrage ist daher: Sind die Notenbanken willens und in der Lage, das Tempo der geldpolitischen Lockerung aufrecht zu erhalten?” Die CrossBorder-Prognose allein für die Geldspritzen der US-Notenbank Fed liegen um etwa 500 Milliarden Dollar höher als diejenige der Kollegen von Pictet.

FISKALPOLITIK ALS JOKER

Neben der Geldpolitik gibt es inzwischen aber eine zweite potenzielle Stütze für die Börsen: Die Fiskalpolitik. Denn langsam setzt sich die Erkenntnis durch, dass eine weitere Lockerung der Geldpolitik eher schadet als nutzt. Schließlich erhalten Verbraucher auf ihr Erspartes praktisch keine Zinsen. Anleihen sind vielfach ein Verlustgeschäft. Zudem brechen den Banken die Gewinne weg, weil sie wegen der niedrigen Zinsen mit Krediten kaum noch etwas verdienen.

Japan schnürte daher im Dezember ein insgesamt umgerechnet 220 Milliarden Euro schweres Konjunkturprogramm. In Großbritannien plant Premierminister Boris Johnson nach einem Jahrzehnt des Sparkurses Ähnliches, um Belastungen durch den Brexit abzufedern. Die neue EZB-Chefin Christine Lagarde hatte Länder mit Haushaltsspielräumen wie etwa Deutschland dazu aufgefordert, mehr zur Unterstützung der Konjunktur zu unternehmen. Gleichzeitig wird in Deutschland über einen Abschied von der Schuldenbremse und der “Schwarzen Null” diskutiert.

Steuergeschenke und Konjunkturprogramme trügen aber erst mit Verzögerung Früchte, warnt Neuberger-Experte Jonsson. Eine Antwort auf akute Kursturbulenzen an den Börsen könnten sie nicht geben. Hier müssten die Notenbanken kurzfristig einspringen. “Es wird eine holprigere Reise.” Einen Vorgeschmack lieferte ein Liquiditätsengpass am US-Interbankenmarkt im Herbst 2019, unter anderem ausgelöst durch vorangegangene Zinserhöhungen der Fed und den Abbau ihrer Wertpapierbestände. Die US-Notenbank pumpte damals kurzfristig viele Milliarden Dollar in den Geldmarkt.


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