Die Zeitbombe von Hannover

  19 Februar 2016    Gelesen: 657
Die Zeitbombe von Hannover
Warum die Wissenschaft Politiker nicht zum Rücktritt zwingen darf
In Hannover tickt eine Zeitbombe, die Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen zum Verhängnis werden könnte. Seit Monaten wird an der dortigen Medizinischen Hochschule untersucht, ob die Politikerin für ihre Doktorarbeit zu viel bei anderen abgeschrieben hat, ohne ihre Quellen korrekt zu nennen. Wann die Hochschule darüber entscheidet, ist ungewiss, ebenso das Ergebnis, also ob die Ministerin weiterhin ihren Doktortitel führen darf oder nicht.

Muss von der Leyen im Falle des Titelentzugs von ihrem Amt zurücktreten? Bislang gilt dieser Automatismus. Doch damit muss jetzt Schluss sein, denn er lädt selbst ernannte Hüter der Wissenschaft ein, demokratisch gewählte Politiker aus dem Amt zu kegeln.

Unvermeidlich war der Rücktritt des damaligen Verteidigungsministers Karl-Theodor zu Guttenberg. Allzu dreist hatte er ein Patchwork von Texten anderer Autoren als seine Leistung ausgegeben, und selbst im Abgang blieb er großspurig, wo Demut gefordert war.

Doch schon der Rücktritt Annette Schavans als Bundesbildungsministerin war tragisch. In einer höchst umstrittenen Entscheidung hatte die Universität Düsseldorf ihr den Doktortitel wegen angeblicher Täuschungsabsicht aberkannt. Andere, hoch angesehene Wissenschaftler kritisierten das als "gravierende Fehleinschätzung". Schavans Doktorarbeit entspreche der damals üblichen Praxis.

Es ist misslich, dass demokratisch legitimierte Politiker derart den Unwägbarkeiten des Wissenschaftsbetriebs ausgeliefert sind, in dem – nicht frei von Willkür – mal so und mal so über akademische Leistungen geurteilt wird. Deshalb ist ein Titelentzug kein Rücktrittsgrund, wenn sich ein gewählter Volksvertreter sonst nichts zuschulden kommen lässt. Der Souverän sollte da souverän sein.

Auch die Wissenschaft muss bei diesem Thema über ihren Tellerrand gucken. Die Verleihung und noch mehr der Entzug eines Doktortitels ist keineswegs eine rein akademische Veranstaltung. Der Doktortitel gilt hierzulande als eine Art durch eigene Leistung erworbener bürgerlicher Adelstitel. Dass Otto Normalverbraucher einen anderen Blick auf den Titel hat als die scientific community, zeigt sich beispielhaft beim Dr. med. Wissenschaftler anderer Fakultäten werden gefragt, ob sie denn auch ein "richtiger Doktor" seien. Als richtiger Doktor gilt im Volk eben der Arzt, während in der wissenschaftlichen Welt der Doktortitel der Mediziner eher als akademisches Leichtgewicht durchgeht.

Die Wissenschaftler sollten bedenken, dass es bei der Aberkennung eines Doktortitels nicht nur um das Urteil über eine wissenschaftliche Leistung, sondern auch ganz altmodisch um die Ehre geht. Entspannung könnte eine Regel bringen, die den Entzug des Titels nur in den ersten zehn Jahren nach seiner Verleihung erlaubt. Und man sollte nicht übertreiben: Ein Zitierfehler ist keine Falschaussage, eine vergessene Fußnote kein Plagiat.

Mit großem Aufwand 30 Jahre alte Doktorarbeiten nach heutigen Standards öffentlich zu sezieren, das sprengt jedes Maß. Die menschlichen und politischen Kollateralschäden sind enorm, und der wissenschaftlichen Qualität wäre mehr gedient, wenn stattdessen der Forschernachwuchs besser betreut würde.

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