Die tiefen Gräben in der Europäischen Union

  01 Juli 2021    Gelesen: 496
 Die tiefen Gräben in der Europäischen Union

Seit Jahren reißen Bruchlinien in der EU auf. Zwischen Nord und Süd wegen der Euro-Rettungsschirme, zwischen Ost und West wegen der Migrationskrise 2015. Die Rechtsstaatlichkeitsverfahren gegen Polen und Ungarn kamen 2018 hinzu. Sprachlosigkeit greift um sich, konstatiert unsere Gastautorin, die früher österreichische Außenministerin gewesen ist.

Dieses Gesetz sei „eine Schande“ – so hatte die EU-Kommissions-Chefin Ursula von der Leyen letzte Woche auf den ungarischen Vorstoß reagiert, Informationen über Homosexualität und Transsexualität einzuschränken. Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban konterte daraufhin, die Kritik von der Leyens sei „beschämend“. Der niederländische Premier Mark Rutte stellte gar einen Rauswurf Ungarns aus der Europäischen Union in den Raum. Die Kontroversen verliefen sehr emotional, wie den jeweils nationalen Pressekonferenzen zu entnehmen war, auch jener von Bundeskanzlerin Angela Merkel. Es war ihr letzter Europäischer Rat. Die Arbeitsagenda wurde erledigt, es hatte schon schwierigere nächtliche Auseinandersetzungen ums Geld gegeben. Doch das innereuropäische Verhältnis ist heftig zerrüttet. Und dies hat nicht nur mit dem sogenannten „Regenbogen Konflikt“ rund um die ungarische Gesetzgebung zur Homosexualität zu tun. Das Problem geht viel tiefer.

Die Rechtsstaatlichkeitsverfahren gegen Ungarn und Polen
Im Frühjahr 2018 wuchs der Unmut der Europäischen Kommission mit Ungarn und Polen, die 2004 Mitglieder geworden waren. Es ging um Richternominierungen und einige andere Verfassungsfragen, die letztlich dazu führten, dass Brüssel erstmals auf der Rechtsgrundlage des Artikels 7 entsprechende Verfahren wegen Verletzung der Rechtsstaatlichkeit gegen Polen und Ungarn einleitete. Zuvor war versucht worden, über einen „strukturierten Dialog“ die Probleme zu lösen.

Dieses Verfahren nach Artikel 7 zum Schutz der Grundwerte der EU wurde mit dem Vertrag von Amsterdam 1997 eingeführt. Es umfasst zwei Mechanismen: Präventionsmaßnahmen im Falle einer schwerwiegenden Verletzung der EU-Werte und Sanktionen, wenn eine solche Verletzung bereits stattgefunden hat. Die möglichen Sanktionen sind nicht klar definiert, können jedoch die Aussetzung von Stimmrechten bis hin zu Einstellung von Finanzierungen umfassen. Eingeleitet werden diese Verfahren vom Europäischen Parlament.

Bereits im Herbst 2018 war spürbar, wie sehr diese Verfahren, die manche involvierte Diplomaten mit regelrechten Verhören verglichen, die gesamte Arbeit in den Räten in der EU belastete. Persönlich hielt ich stets den Brexit für das lösbare Dossier, diese Artikel-7-Verfahren erachtete ich hingegen als die echten Belastungsproben für den inneren Zusammenhalt der EU. In bilateralen Treffen wurde der Unmut der polnischen und ungarischen Kollegen laut. Mein damaliger polnischer Kollege Jacek Czaputowicz war ein bedächtiger Universitätsprofessor, der aber angesichts des Brüsseler Vorwurfs an die polnische Adresse, europäische Werte nicht hochzuhalten, sehr wohl auf den Tisch zu klopfen wusste. Ich verstand seine Reaktion, denn dieser Mann hatte die Umbruchzeiten zwischen Streiks, Kriegsrecht und Zusammenbruch des Kommunismus hautnah miterlebt. Menschen, die in schwierigen Zeiten, den Kopf hingehalten haben, lassen sich nicht einfach so vorführen.

Orban galt 1989 als der Jungstar unter den sogenannten Helden der Demokratie, deren Doyen der Schriftsteller Vaclav Havel in Prag war. Als junge Diplomatin erlebte ich damals mit, wie Orban in Wien von den Konservativen herumgereicht wurde. Seine Brandreden gegen den Kommunismus, die auch anders hätten ausgehen können, wurden als mutige Leistungen für eine Renaissance Europas gewürdigt. Letztlich verließ seine Fidesz-Partei nun nach langem Tauziehen die europäische Parteifamilie der EVP.

Polen, Ungarn und der Freiheitskampf
Ohne auf die ideologische Auseinandersetzung einzugehen, die rund um die Artikel-7-Verfahren auf allen Seiten medial heftig geführt wird, möchte ich an die größere historische Betrachtung erinnern, die mir in der EU fehlt. Wer versucht, nur ein wenig in den Schuhen ungarischer und polnischer Bürger zu stehen, in deren Familien die Erinnerungen an den gescheiterten Aufstand 1956 oder die vielen Niederlagen der Polen der letzten 250 Jahre hochgehalten werden, derjenige versteht den Unmut über den Vorwurf, „uneuropäisch“ zu sein. Es waren die ungarischen Revolutionäre, die von den Europäern im Herbst 1956 zugunsten der Suez-Krise im Stich gelassen wurden. Die Rote Armee hatte freie Hand bei der Niederschlagung der Proteste in Ungarn, dafür konnten London und Paris sicherstellen, dass Moskau nicht ihr Debakel im Suezkanal ausnützen würde. Ich habe in den 1990er Jahren fast jeden Monat Ungarn besucht, damals die Sprache zu erlernen begonnen und bin in meinen Begegnungen immer wieder auf die ungarische Sicht auf Geschichte, auf die Frage der Opfer und Täter gestoßen. Was ich in Brüssel in all den Jahrzehnten vermisst habe, ist historisches Mitdenken. Geschichte und vor allem die Erzählungen in den Mitgliedstaaten haben keinen Stellenwert. So entstehen Missverständnisse und Sprachlosigkeit, die nur mehr in Konfrontation mündet.

In Polen haben die Gräuel der Kriege des 20. Jahrhunderts in jeder Provinz ihre tiefen Spuren hinterlassen. Der Freiheitskampf bewegte nicht nur jene jungen Polen, die in die britischen Kolonien in Nordamerika aufbrachen, um dort für die Ideale des Unabhängigkeitskampfes einzutreten. Das Thema zieht sich wie ein roter Faden durch die Literatur und die Geschichtsschreibung in Polen. Wenn dann im Jahre 2018 immer noch getönt wird, dass in Polen all diese Ideale auf der Kippe stünden, dann kann auch so mancher moderate Professor in seiner Argumentation etwas lauter werden, wie ich es bei meinem polnischen Amtskollegen beobachtete. Und ich verstand ihn in diesem Moment. Die innerpolnische Auseinandersetzung zwischen der immer noch mächtigen katholischen Kirche und der Sozialdemokratie ist eine alte, ebenso wiegen gesellschaftliche Bruchlinien zwischen den Regionen. Diese zu verkürzen und nur mehr in pro- bzw. antieuropäische Kräfte einzuteilen, die dann via Kommissionsverfahren zu klären seien, mündet eher in einer Sackgasse als in einen „strukturierten Dialog“.

Die Zeichen stehen auf Konfrontation
Die EU-Kommission fordert die ungarische Regierung nun auf, die rechtlichen Bedenken gegen die Diskriminierung von Menschen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung auszuräumen. Orban zeigte dafür kein Verständnis. Er bekräftigte unmittelbar vor Beginn des EU-Gipfels in Brüssel, er werde das bereits geltende Gesetz keinesfalls wieder zurückziehen. Für diesen Fall hat Brüssel angedroht, ein neues Vertragsverletzungsverfahren gegen das Land einzuleiten. In der Kritik gegen Orban ist die EU allerdings gespalten. Nur 14 von 27 Europaministern haben den Protestbrief unterzeichnet – vor allem die ostmitteleuropäischen Länder halten sich mit Stellungnahmen zurück.

Dieses aktuelle Dossier zu Ungarn ist wie ein Brennglas, durch welches viel Geschichte, Gesellschaftspolitik und Tagesgeschehen durchschimmert. Das Gesetz mag für die einen marginal, für die anderen zentral sein. Diese Konfrontation zwischen Budapest und Brüssel ist nicht zu unterschätzen. Die Liste der Streitpunkte, wenn es um den eigenständigen außenpolitischen Kurs Ungarns geht, ist lang. Dazu gehört auch die nationale Zulassung des russischen Impfstoffes Sputnik V wie auch die enge bilaterale Beziehung zu China. Diese Themen sollten aus Brüsseler Sicht an sich schwerer ins Gewicht fallen. Die emotionale Kontroverse in dem „Regenbogen Konflikt“ überschattet nun aber vieles andere. Die EU wird daran nicht zerbrechen. Ungarn wird kaum die EU verlassen wollen, denn das Wirtschaftswachstum der letzten Jahre war den hohen Transferleisten seitens der EU zu verdanken.

Der Zusammenhalt im Namen einer gemeinsamen europäischen Kultur war trotz der Barbarei vergangener Epochen zu Beginn des 20.Jahrhunderts noch spürbar größer, wie sich bei Schriftstellern wie Joseph Roth oder Imre Kertész nachlesen lässt. Nun wird offenbar nur mehr prozessiert, verbal attackiert und so mancher Ausweg verbarrikadiert. Geld versus Stimmrechte und Gesetz versus Verfahren wird die Idee einer gemeinsamen europäischen Gegenwart nur weiter strapazieren. Letztlich könnte dieser aktuelle Streit um ein Gesetz nur mehr eine Fußnote in der Geschichte sein. Ohne jeden Sarkasmus sei angemerkt, dass das magyarische Selbstverständnis Geschichte ohnehin eher in Jahrtausende denn in Jahrhunderte einteilt.

snanews


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