In seiner Rede am 9. Mai, dem "Tag des Sieges", sprach Wladimir Putin mal wieder von den "Nazis", gegen die die Russen in der Ukraine kämpfen. Den Angriff auf das Nachbarland begründet der Kreml mit einer angeblich erforderlichen "Entnazifizierung". Vor wenigen Tagen sorgte der russische Außenminister Sergej Lawrow mit seiner Behauptung für Empörung, es spiele keine Rolle, dass der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj Jude ist. Hitler habe auch "jüdisches Blut" gehabt, behauptete Lawrow. Nach seiner Ansicht seien in der Regel Juden selbst "die eifrigsten Antisemiten".
Wie es scheint, hat man in Russland eine andere Vorstellung von Nationalsozialismus als im Rest der Welt. Nach Lawrows Interview behauptete Putins Top-Propagandist Wladimir Solowjew im Staatsfernsehen, Nazismus bedeute nicht zwangsläufig Antisemitismus. Diese Aussage ist natürlich falsch. Der Nationalsozialismus ist eine rassistische, nationalistische und antisemitische Ideologie. Doch Solowjew ist anderer Meinung: "Das ist, was die Amerikaner immer wieder behaupten. Sie sagen, dass Selenskyj ein Jude ist, also kann er kein Nazi sein. Natürlich kann er einer sein", urteilte der Moderator in seiner Talk-Show "Abend mit Wladimir Solowjew". "Nazismus muss nicht antisemitisch sein. Er kann auch antislawisch und antirussisch sein. Und genau das ist der ukrainische Nazismus." Ein Gast der Show, die "Politikwissenschaftlerin" Elena Ponomareva, ging noch weiter und beklagte den "Antisemitismus gegen die Russen, gegen alles, was mit Russland zu tun hat".
Aus "Nie wieder" wird "Wir können das wiederholen!"
Das Wort Nazismus hat im heutigen Russland seine eigentliche Bedeutung verloren. In der Propaganda-Rhetorik steht es als Synonym für alles Böse, für das Fremde, für die "unfreundlichen Staaten" und für alle, die gegen die Eroberung der Ukraine sind. Das Wort dient auch der Einschüchterung der Bevölkerung und der Mobilisierung der Gesellschaft gegen die vermeintlichen Feinde. "Putin will, dass der Begriff Nazismus, der in russischen Köpfen mit den abscheulichen Verbrechen Nazi-Deutschlands in den besetzten sowjetischen Gebieten verbunden ist, sich auf die heutige Ukraine überträgt", erklärte der Historiker Alexej Heistver in einem Interview mit dem "Tagesspiegel".
Die Propaganda verbreitet den Mythos von Russland als einer Nation der Befreier. Jahrzehntelang waren die Russen stolz auf ihre Vorfahren, die vor 77 Jahren Europa von den Nazis befreiten. Jetzt sollen sie glauben, sie würden in ihre Fußstapfen treten, um die Welt zu "entnazifizieren". Statt "Nie wieder Krieg" werde am 9. Mai überall in Russland "der kannibalistische Slogan 'Wir können das wiederholen!' gerufen", sagt Heistver. "Putin hat den Sieg über den Faschismus an sich gerissen, weil er nichts Eigenes zu bieten hat außer ständigem Raub. Also steckt man kleine Kinder in Militäruniformen und lässt sie Parolen rufen."
Tatsächlich wird den russischen Kindern schon in der Schule vermittelt, ihre Heimat sei das friedlichste Land der Welt, noch nie habe es jemanden angegriffen, habe sich aber immer wieder gegen die zahlreichen Feinde verteidigen müssen. In den Geschichtsbüchern werden der Angriffskrieg gegen Finnland in den Jahren 1939-1940 oder die sowjetische Intervention in Afghanistan nur am Rande erwähnt. Kein Wunder, dass sich die Parole "Russland beginnt keine Kriege, es beendet sie" unter den Unterstützern des Kremls heutzutage großer Beliebtheit erfreut. Und so kommt es dazu, dass Russen, die den Krieg in der Ukraine gutheißen, keine Zweifel daran haben, dass sie auf der richtigen Seite stehen. Sie leben mit der Vorstellung, dass sie angegriffen werden und sich verteidigen müssen, nicht andersherum.
Diffamierung der Ukrainer als "Nazis" hat eine lange Geschichte
Nicht erst seit Beginn des großangelegten Krieges im Februar dieses Jahres diskreditiert die Kreml-Propaganda die Ukraine als faschistisch. Bereits seit der Orangen Revolution 2004, als der prowestliche Politiker Wiktor Juschtschenko Präsident wurde, "arbeiteten die Russen hart daran, ukrainische Reformer, Westukrainer und die ukrainische Idee im Allgemeinen mit der Geschichte des Zweiten Weltkriegs zu verkoppeln", sagte der US-Historiker Timothy Snyder 2014 in einem Interview mit der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung".
Als im Zuge der Maidan-Revolution 2014 der prorussische Präsident Wiktor Janukowitsch abgesetzt wurde, hieß es in den russischen Medien, "Faschisten" hätten die Macht übernommen. In ihren Berichten machte die Staatspropaganda darauf aufmerksam, dass bei den Protesten unter anderem ukrainische Nationalisten dabei waren. Diese Gruppen hätten eine Rolle gespielt, sagt der Historiker Karl Schlögel, "zum Teil, weil sie sich massiv eingesetzt haben gegen die Polizeigewalt des Janukowitsch-Regimes. Aber zu behaupten, es gebe in der Ukraine eine nationalistische Bewegung, ist völlig absurd und an den Haaren herbeigezogen."
In der Ukraine existieren zwar einzelne radikale paramilitärische Gruppen wie das Regiment "Asow". Aber weder in der Regierung noch in der Armee gibt es breite Unterstützung für die rechtsextreme Ideologie. Bei den Parlamentswahlen 2019 haben ultrarechte nationalistische Parteien keinen einzigen Sitz in der 450 Sitze zählenden Werchowna Rada bekommen. Zudem trat 2015 das Gesetz "Über die Verurteilung kommunistischer und nationalsozialistischer totalitärer Regime" in Kraft. Die Verbreitung von Nazi-Symbolik und Propaganda ist damit verboten.
Dass es in der Ukraine - wie auch in Russland und vielen weiteren Ländern - einzelne rechtsradikale Gruppen gibt, die keinen oder nur einen sehr geringen Einfluss auf die Gesellschaft haben, ist kein Geheimnis. Es ist aber kein Grund, die Bevölkerung oder auch die Regierung der Ukraine pauschal als "Nazis" zu diffamieren. Dass Putin es trotzdem tut, ist ein Versuch, die Zerstörung friedlicher Städte und Massenmorde an Zivillisten in den Augen der Russen zu legitimieren.
Quelle: ntv.de
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