"Die aggressive NATO-Erweiterung ist eine Propagandalüge"

  16 Mai 2022    Gelesen: 515
  "Die aggressive NATO-Erweiterung ist eine Propagandalüge"

Finnland und Schweden wollen der NATO beitreten. Dieser bieten sich dadurch strategisch neue Möglichkeiten, die Sicherheitsexperte Markus Kaim von der Stiftung Wissenschaft und Politik im Interview erklärt. Ohnehin habe das Bündnis heute ganz andere Prioritäten als vor 20 Jahren, sagt er. Zudem spricht Kaim über die Vorteile auf beiden Seiten, er widerlegt eine russische Propagandalüge und erklärt, was hinter Erdogans Kritik steckt.

ntv.de: Ist der NATO-Beitritt für Finnland und Schweden das Ende einer Epoche?

Markus Kaim: Für beide Staaten ist es ein großer Paradigmenwechsel in der Sicherheitspolitik, zumindest was die Bündnisfreiheit angeht. Sie schließen sich einem System kollektiver Verteidigung an, nachdem sie über Jahrzehnte auf nationale Verteidigung gesetzt haben. Wirklich neutral waren beide Länder aber schon zuletzt nicht mehr, eigentlich bewegen sie sich seit den 90er-Jahren auf den Westen zu. Sie sind seit 1995 in der EU, was auch sicherheitspolitische Verpflichtungen einschließt. Nach der Annexion der Krim und der Destabilisierung der Ostukraine 2014 wurden sie Partnerländer der NATO. Die Invasion in der Ukraine hat die öffentliche Meinung in beiden Ländern nun völlig zum Umkippen gebracht. Es ist also keine Entwicklung, die in den vergangenen sechs Wochen begonnen hat, sondern sie geht seit Jahren, hat jetzt aber natürlich eine Zuspitzung erfahren.

Passt die Entwicklung nicht zum russischen Vorwurf, die NATO würde sich immer mehr den Grenzen des Landes nähern?

Nein, ganz im Gegenteil. Wir erleben gerade im Zeitraffer die Logik des Erweiterungsprozesses der NATO. Es gab immer die russische - man muss es so sagen - Propagandalüge, die NATO würde sich aggressiv erweitern und hätte das seit den 90er-Jahren auch in den osteuropäischen Raum hinein getan. Tatsächlich aber suchen sich Staaten in Ausübung ihres Rechts auf freie Selbstbestimmung ihr Bündnis. Die Gründe dafür sind offensichtlich, der finnische Präsident hat das treffend ausgedrückt: Wenn man nach der Verantwortung für die Entscheidung Finnlands sucht, dann müsse Russland in den Spiegel blicken. Das erinnert daran, was auch die Motivation der Polen, Tschechen und Balten war: Nicht die NATO hat sich aggressiv erweitert, sondern diese Staaten haben Schutz vor Russland gesucht. Damals wurde das mitunter als übertrieben angesehen, heute sehen wir das anders.

Warum sollte die NATO beide Staaten aufnehmen?

Entscheidend ist der sicherheitspolitische Mehrwert, denn beide Länder sind militärisch hervorragend aufgestellt. Finnland hat nie die Wehrpflicht abgeschafft, es gibt mehr als zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für die Verteidigung aus und die gesamte Gesellschaft ist in die sicherheitspolitischen Anstrengungen des Landes eingebunden. Im Konfliktfall könnte Finnland 280.000 Soldaten mobilisieren, zusammen mit den Reservisten sind es sogar 900.000. Zudem hat Finnland bei seinen Planungen immer einen Landkrieg gegen Russland einkalkuliert und sich hervorragend darauf vorbereitet: Aus den Niederlanden haben sie "Leopard"-Panzer und Raketenwerfer gekauft, bei der Anzahl der Artilleriesysteme sind die Finnen wahrscheinlich führend unter den europäischen NATO-Mitgliedern. Das Land ist also eine ausgewiesene Landmacht, während Schweden große Fähigkeiten vor allem im maritimen Bereich hat: eine ausreichende Anzahl an Korvetten, an Tarnkappenschiffen, U-Boote und anderes mehr.

Was bedeutet das strategisch?

Es erlaubt der NATO eine völlig neue Verteidigungsplanung im Norden und Nordosten des Bündnisgebietes. Das betrifft auch die Arktis, sie steht aber nicht im Mittelpunkt. Vor allem geht es um die Einsatzplanung im baltischen Raum. Ein Beispiel: Bei einer Krise in den drei baltischen Staaten hätte der gesamte logistische Nachschub über die schmale Grenze zwischen Polen und Litauen laufen müssen, die sogenannte Suwalki-Lücke. Dieser Korridor ist leicht abzuriegeln, es ist ein Schwachpunkt. Das ist mit der NATO-Erweiterung obsolet, der Nachschub kann über Finnland laufen, vor allem aber über Schweden. Ich gehe davon aus, dass die entsprechenden Verteidigungsplanungen der NATO mit einem Beitritt Finnlands und Schwedens angepasst werden.

Wird die NATO Truppen in Finnland und Schweden stationieren?

Die gesamten Streitkräfte Finnlands und Schwedens werden jetzt in die integrierte Kommandostruktur der NATO eingebunden, so wie bei der Bundeswehr. Die Präsenz der NATO mit Stützpunkten oder Materialdepots leitet sich aus deren Planungen ab. Im Moment steht dabei aber die NATO-Ostgrenze im Mittelpunkt, wo Staaten wegen schwächerer militärischer Fähigkeiten das Bündnis um Hilfe bitten - so wie die Bundeswehr zum Beispiel Einheiten nach Litauen entsandt hat. Finnland hat da aufgrund der eigenen militärischen Stärke keine Priorität, es ist derzeit fraglich, ob sie diese Unterstützung der NATO brauchen. Zumindest habe ich bisher nichts darüber gehört.

Auch wenn sie der NATO beitreten, bringen die beiden Länder ja wegen ihrer langjährigen Neutralität eine bestimmte politische Kultur mit. Wird das Entscheidungen der NATO etwa zu Auslandseinsätzen beeinflussen?

In den kommenden zehn Jahren wird die Priorität der NATO ganz klar im Bereich der kollektiven Verteidigung liegen, nicht mehr im Bereich der Auslandseinsätze wie in Afghanistan oder bei der Bekämpfung des Terrorismus wie beim Islamischen Staat. Natürlich kann sich das auch wieder ändern, aber angesichts des derzeitigen aggressiven Auftretens Russlands sind die Prioritäten klar. Ein Einsatz rund um den Globus, wie in Afghanistan, würde auch ohne Schweden als Mitglied heute keine Zustimmung finden. Finnland und Schweden treten eben nicht der "Afghanistan-NATO" bei, die NATO von 2022 ist nicht die NATO von 2001. Heute hat das Bündnis ganz andere Prioritäten als damals und das ist ja auch ein Argument für Schweden und Finnland, überhaupt beizutreten.

Der Beitritt muss noch von allen Mitgliedern ratifiziert werden. Skeptisch hat sich der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan geäußert. Was bezweckt er damit?

Die Türkei hat eine lange Geschichte von Störmanövern in der NATO, das Land ist ein sperriger Partner und hat Verwerfungen mit mehreren Mitgliedern. Auch mit den USA gibt es Spannungen, weil Washington bestimmte Rüstungsgüter nicht verkaufen will. Die Türkei unterliegt da rüstungspolitischen Restriktionen, weil sie ein ambivalentes Verhältnis zu Russland pflegt und ein russisches Luftabwehrsystem gekauft hat. Dennoch ist die Türkei ein wichtiger NATO-Partner, mit der zahlenmäßig zweitgrößten Armee. Und Ankara hat auch nie Zweifel an der Bündnistreue aufkommen lassen. Von daher gehe ich davon aus, dass Erdogan einen Preis erzielen will. Der könnte in der Verpflichtung der USA bestehen, die Rüstungs-Restriktionen abzubauen und der Türkei die gewünschten F35-Kampfflugzeuge zu verkaufen. Erdogan will sich seine Zustimmung also bezahlen lassen, aber er wird es nicht auf die Spitze treiben.

Die Phase vom Beitrittsantrag bis zur offiziellen Aufnahme in die NATO gilt als äußert sensibel. Erwarten Sie Probleme?

Wir alle gehen davon aus, dass es Störmanöver von russischer Seite geben wird, also etwa das Eindringen in den Luftraum oder die Hoheitsgewässer Schwedens und Finnlands. Es könnte auch Cyberangriffe geben. Aber keine Seite hat Interesse, eine direkte Konfrontation zum Beispiel zwischen Schweden und Russland herbeizuführen. Außerdem sind Russlands Kräfte ja derzeit an anderer Stelle gebunden.

Welche Sicherheiten haben die Kandidaten während des Beitrittsprozesses?

Ich fand es ein gutes Signal, dass verschiedene Staaten Zusagen gemacht haben. Mit Großbritannien haben sie eine formelle Form als Beistandsverpflichtung. Aber auch Bundeskanzler Olaf Scholz und Außenministerin Annalena Baerbock haben sehr deutlich ihre Unterstützung gerade in der Übergangsphase zugesagt. Soweit ich weiß, wurde zudem eine informelle Beistandsverpflichtung vereinbart, die ab dem offiziellen Antrag gilt. Ohnehin gibt es eine Beistandsverpflichtung innerhalb der EU, laut Artikel 42 Absatz 7 des EU-Vertrags.

Sie haben von möglichen russischen Störmanövern gesprochen. Welche russische Reaktion erwarten Sie sonst noch?

Meiner Meinung nach war die russische Reaktion in den vergangenen Tagen im Ton eigentlich überraschend zurückhaltend. Welche Schlussfolgerungen Russland aus der veränderten strategischen Lage ziehen wird, ist aber schwer einzuschätzen. Es geht dabei ja nicht nur um die Erweiterung der NATO, sondern auch um die Westorientierung der Ukraine und die Frage, wie der Krieg letztlich ausgeht. Die Reaktion hängt dann davon ab, ob Putin seinen konfrontativen Stil der vergangenen Jahre beibehält oder ob er, weil der Krieg in der Ukraine einen nicht zufriedenstellenden Ausgang hat, zu einem kooperativen Kurs zurückfindet. Danach sieht es derzeit aber nicht aus.

Mit Markus Kaim sprach Markus Lippold

Quelle: ntv.de


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