Der Zickzack-Kurs von Recep Tayyip Erdogan in der Frage des NATO-Beitritts Finnlands und Schwedens sorgt für Verwirrung. Nicht nur der finnische Präsident Sauli Niinisto und die finnische Ministerpräsidentin Sanna Marin fragen sich bereits, welche Haltung sein Land nun einnimmt. Immerhin kann die Türkei mit einem Veto die bereits sicher geglaubte Erweiterung stoppen.
Ende vergangener Woche sähte Erdogan erste Zweifel an der Erweiterung des Bündnisses. Der Vorwurf: Beide Länder, vor allem aber Schweden, seien "Gasthäuser für Terrororganisationen", weil sie Mitglieder der in der Türkei und der EU verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und Anhänger des Predigers Fethullah Gülen beherbergen - dieser wird von Ankara für den Putschversuch im Jahr 2015 verantwortlich gemacht. Interessant dabei: Russische Sicherheitsinteressen spielen für Erdogan, der ein ambivalentes Verhältnis zu Kemlchef Wladimir Putin pflegt, offenbar keine Rolle.
Am Wochenende sollten Gespräche der Außenminister die Wogen glätten. Das gelang zumindest teilweise. Zwar wiederholte der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu die Vorwürfe, zeigte sich aber gesprächsbereit. Sein Land sei für eine "Politik der offenen Tür", sagte er. Die Aussage weckte Hoffnungen, dass der NATO-Beitritt der beiden nordeuropäischen Länder doch noch schnell über die Bühne gehen könnte.
Am Montagabend jedoch legte der Staatschef nach und sagte, man könne nicht einem Beitritt von Ländern zustimmen, die Sanktionen gegen die Türkei verhängen. Mehr noch: Er brüskierte beide Länder, weil er mit Blick auf den Besuch einer finnischen und schwedischen Delegation sagte, sie sollten sich erst gar nicht erst bemühen.
"Erdogan will den Preis steigern"
Die Kritik an Erdogan ist groß, sie geht bis hin zu klischeehaften Ressentiments wie bei Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn, der dem türkischen Staatschef im Deutschlandfunk eine "Basar-Mentalität" attestierte. Doch worum geht es Erdogan? Fakt ist, dass vor allem in Schweden viele türkische und kurdische Menschen leben. Es sind vor allem Oppositionelle, die vor den zunehmenden Repressionen in der Türkei geflohen sind. Nach türkischen Angaben sind darunter auch Extremisten - weder Schweden noch Helsinki sollen aber auf Dutzende türkische Auslieferungsanträge reagiert haben. Es würde auch ihrer liberalen Politik widersprechen, wenn sie nun Einzelpersonen an Ankara ausliefern würden, sofern es keine handfesten Beweise für deren Extremismus gibt.
Allerdings gibt es Zweifel, dass es Erdogan überhaupt um kurdische Extremistengruppen geht oder er eine NATO-Erweiterung grundsätzlich wirklich ablehnt. Asselborn etwa sagte, Erdogan wolle einfach den Preis hochtreiben. "Ich glaube, Erdogan will den Preis steigern und will damit Druck machen, dass das geschieht." Dies sei ein gefährliches Spiel, sagte er dem ZDF.
Das sieht auch NATO-Experte Markus Kaim von der Stiftung Wissenschaft und Politik so. "Ich gehe davon aus, dass Erdogan einen Preis erzielen will", sagte er ntv.de. Kaim verweist auf "eine lange Geschichte von Störmanövern in der NATO" durch die Türkei. Das Land sei ein "sperriger Partner" und habe Verwerfungen mit mehreren Mitgliedern. Das türkische Eingreifen in Syrien, die Offensive im Norden des Nachbarlandes, wurde kritisiert - mehrere Staaten legten daraufhin Waffenexporte auf Eis, was Erdogan ihnen nun vorwirft. Darunter auch Deutschland.
Im Mittelpunkt steht jedoch der Streit mit den USA um die Lieferungen moderner F-35-Kampfflugzeuge. Washington hat die Lieferung gestoppt, weil die Türkei 2019 russische S-400-Luftabwehrraketen kaufte und damit dem NATO-Verbündeten vor den Kopf stieß. Die Folge waren Sanktionen der USA, weshalb Ankara seine gewünschten Kampfjets nicht bekam. Auch eine Entschädigung oder ältere Flugzeuge vom Typ F-16 verweigerte Washington.
Kein Interesse, Türkei zu vergraulen
Dennoch sind Politiker überzeugt, dass es noch zu einer Einigung kommt. "Am Ende ist es eine Bereicherung für die NATO, wenn zwei so starke EU-Staaten wie Finnland und Schweden beitreten", sagte Verteidigungsministerin Christine Lambrecht am Rande eines Treffens der EU-Verteidigungsminister in Brüssel. "Und ich bin fest davon überzeugt, dass auch die Türkei sich davon überzeugen lässt." Auch Asselborn geht davon aus, dass die Türkei einlenken wird. Ankara könne nicht die Verantwortung auf sich nehmen, beiden Ländern eine Mitgliedschaft zu verwehren, sagte er.
Mindestens ein Ziel dürfte Erdogan erreichen: Zugeständnisse etwa bei den Waffenlieferungen. NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg forderte bereits, die türkischen Forderungen ernst zu nehmen. "Die Türkei ist ein geschätzter Bündnispartner und alle Sicherheitsbedenken müssen angegangen werden", sagte er am Montag. Auch Lambrecht betonte, dass es wichtig sei, mit der Türkei zu sprechen und ihre Argumente ernst zu nehmen - ging aber nicht darauf ein, ob auch Deutschland seine 2019 gestoppten Waffenlieferungen wieder aufnehmen könnte.
Bei aller Kritik hat die NATO kein Interesse daran, die Türkei zu vergraulen. Das Land ist ein strategisch wichtiger Partner im Südosten des Bündnisses, vor allem mit Blick auf den Nahen Osten. Nicht zuletzt stellt sie die zahlenmäßig zweitgrößte Armee. Und Ankara hat auch nie Zweifel an der Bündnistreue aufkommen lassen.
Wie könnte also ein Kompromiss aussehen? "Der könnte in der Verpflichtung der USA bestehen, die Rüstungs-Restriktionen abzubauen und der Türkei die gewünschten F35-Kampfflugzeuge zu verkaufen", sagte Experte Kaim. Erdogan wolle sich seine Zustimmung bezahlen lassen, "aber er wird es nicht auf die Spitze treiben".
Quelle: ntv.de
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