Egal, wie die Bilanz des russischen Angriffs auf die Ukraine aus Kreml-Sicht ausfällt, eines hat der russische Präsident Wladimir Putin mit seiner Invasion auf jeden Fall geschafft: Die verhasste NATO wird größer. Schweden und Finnland wollen dem transatlantischen Verteidigungsbündnis so schnell wie möglich beitreten - aus Sorge, sie könnten nächste russische Opfer werden.
Vor allem Finnland kann nachempfinden, wie sich die Ukraine derzeit fühlt. Das nordische Land hat eine lange und teils blutige Vergangenheit mit Russland. Manch älterer Finne hat in jungen Jahren bereits gegen die Rote Armee gekämpft, im Winterkrieg 1939/1940. Vor gut 80 Jahren wollte sich die damalige Sowjetunion finnisches Territorium einverleiben. Die zahlen- und materialtechnisch klar unterlegenen Finnen schlugen sich wacker, konnten den Angriff der Roten Armee zunächst stoppen.
Erst nach mehr als zwei Monaten gelang den sowjetischen Truppen der Durchbruch. Mit dem Friedensvertrag von Moskau wurde der Krieg am 13. März 1940 beendet. Finnland blieb unabhängig, musste aber Teile seines Landes abtreten.
"Ostsee wird von NATO dominiertes Meer"
Die Grenze zwischen beiden Staaten ist seitdem über 1300 Kilometer lang - und größtenteils kaum gesichert. Wenn Russland wollte, könnten seine Truppen schnell und leicht nach Finnland vorrücken. Die Invasion der Ukraine beweist, dass der Kreml zu solchen Angriffen bereit ist.
Der NATO-Beitritt von Schweden und Finnland dürfte trotz türkischer Veto-Androhung nur eine Frage der Zeit sein. "Eine Kooperation gibt es schon seit längerer Zeit, also militärisch verändert sich ad hoc nichts. Die Ostsee wird perspektivisch aber zu einem von der NATO dominierten Meer. Das verschlechtert natürlich die geostrategische Position Russlands", analysiert Brigadegeneral a.D. Erich Vad.
Strategisch wichtige Halbinsel Kola
Die nordische NATO-Erweiterung würde Russland weiter isolieren und vor allem die russische Dominanz in Nordeuropa gefährden. Im äußersten Nordwesten der Russischen Föderation leben zwar nicht viele Menschen, sondern vor allem Rentiere, Elche und Polarfüchse. Die Region ist aber reich an Bodenschätzen. Es gibt große Nickelvorkommen, auch andere Schwermetalle, Erze und Edelsteine sind reichlich vorhanden.
Vor allem aber ist die Halbinsel Kola ein militärisches Zentrum der russischen Armee. Über Jahrzehnte hat der Kreml die Region aufgerüstet. Unter anderem ist auf Kola ein riesiges Atomwaffenarsenal der russischen Streitkräfte stationiert, in der Region Murmansk hat die russische Nordflotte ihre Heimat. In Seweromorsk liegt Russlands einziger eisfreier Arktishafen, im Fjord Sapadnaja Liza der Großteil der russischen Atom-U-Boote.
Die Nordflotte genießt für Moskau "absolute Priorität", wie die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) schon vor zwei Jahren analysiert hat. Sie soll Russland im Falle eines Atomkriegs verteidigen, denn sie beansprucht zwei Drittel der maritimen nuklearen Zweitschlagfähigkeit für sich - weit weg von möglichen Konfliktgegnern.
Bislang weiß Russland in Nordeuropa lediglich eine 150 Kilometer lange NATO-Grenze vor der eigenen Tür. Der östlichste Zipfel Norwegens grenzt hoch im Norden an die Oblast Murmansk. Ein militärisch leicht zu kontrollierender Flaschenhals. Anders als die zehnmal so lange russisch-finnische Grenze, auch wenn vollkommen abwegig ist, dass Finnland dem Verteidigungsbündnis beitritt, um Russland anzugreifen.
Nur eine Straße führt nach Kola
Aber in der Militärtheorie geht es nicht um Wahrscheinlichkeiten, sondern um Tatsachen. Im Fall von Kola sehen die aus russischer Sicht aktuell so aus, dass der Kreml die finnische Grenze als riesiges Einfallstor in sein Gebiet betrachtet, das militärisch kaum zu kontrollieren ist.
Auf einer Länge von mehr als 1300 Kilometern könnte das Verteidigungsbündnis Truppen entsenden und Russland ohne großen Aufwand schweren Schaden zufügen. Denn die gesamte Halbinsel mit all ihren Armeestützpunkten ist nur über eine einzige Straße und eine Eisenbahnlinie mit dem russischen Kernland verbunden. Von Nikel, der russisch-norwegischen Grenzstadt sind es etwa 950 Kilometer bis Medweschjegorsk, erst hier gabelt sich die Fernstraße auf.
Auf Twitter hat der finnische Autor Tomi Ahonen dieses Gedankenspiel auf den Punkt gebracht: "Eine einzige Kompanie von Spezialisten könnte die Straße, die Eisenbahn und die Stromleitung zwischen Murmansk und dem Rest Russlands zerstören. Dann wäre das Gebiet nur noch Wald. Finnland müsste es gar nicht besetzen."
"Russische Politik ist totales Desaster"
USA trotzdem zuversichtlichTürkei hält an "Nein" zu NATO-Erweiterung fest
Natürlich ist ein Krieg zwischen Russland und der NATO ein rein theoretisches Konstrukt. Aber in den Augen des Kremls ist der transatlantische Zusammenschluss auch ein aggressives Militärbündnis, kein Verteidigungspakt. Für das Putin-Regime geht es um geopolitischen Einfluss. Und dieser wird kleiner, wenn Länder wie Schweden oder Finnland ihren neutralen Status aufgeben.
Russland habe mit seiner Politik genau das Gegenteil von dem erreicht, was man erreichen wollte, fasst Markus Kaim von der Stiftung Wissenschaft und Politik zusammen. "Russland wollte den Einfluss der NATO einhegen, sie spalten, die USA aus Europa herausdrängen. Das Gegenteil ist eingetreten: Die NATO ist einig und wir sehen sogar eine Norderweiterung. Die gesamte Politik der russischen Regierung gegenüber der NATO ist ein totales Desaster."
Quelle: ntv.de
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