"Unser jetziger Weg wird im Desaster enden"

  03 Juni 2022    Gelesen: 692
  "Unser jetziger Weg wird im Desaster enden"

Bekommt die Unterstützung des Westens für die Ukraine erste Risse? Bei Maybrit Illner streiten die Gäste um Wege, den Krieg zu beenden. Es geht um den "Ritt auf der Rasierklinge", falsche Hoffnungen und eine "fatale Außenwirkung". Einigkeit herrscht beileibe nicht.

Vizekanzler Robert Habeck spricht von "Gewürge" bei den Sanktionen gegen Russland. Auf ähnliche Art und Weise ringt auch die ZDF-Talkrunde bei Maybrit Illner am Donnerstagabend um die Frage, welche Wege für einen Sieg Kiews die richtigen wären. Risse in der Fassade des Konsenses zur Ukraine werden in der Talkshow sichtbar. Risse, die sich derart auch in den unterschiedlichen Auffassungen und Herangehensweisen der westlichen Mächte widerspiegeln.

Grünen-Politiker Habeck nimmt nicht an der Diskussion teil, Gastgeberin Illner schaltet ihn lediglich anfangs aus Berlin zu. Der Bundeswirtschaftsminister lobt trotz des jüngsten Ungarn-Debakels die Sanktionen, denn "die russische Wirtschaft ist tief getroffen und die Wirtschaftskraft ist eingebrochen". Russlands Importe seien um die Hälfte zurückgekommen und "Putin hat zwar Geld, aber kann sich immer weniger davon kaufen". Das werde sich bald noch mehr bemerkbar machen. Aber Habeck sieht auch Waffen als wichtigen Faktor für den Sieg der Ukraine und schiebt bei dem Punkt gleich ein weiteres Lob auf die an den Vortagen beschlossenen weiteren Lieferungen schweren Materials hinterher: "Das ist nicht nur ausgedienter Schrott, was wir dahin schicken", sagt er, die schweren Waffen "können wirklich was". Letztendlich wäre es aber einfach wichtig, "dass sich alle darauf verständigen, dass die Ukraine das Kriegsziel vorgibt und den Krieg nicht verliert", so der Vize-Kanzler.

"Nur die Ukrainer entscheiden"

Doch genau bei der Verständigung hapert es. In der Talkrunde wie allgemein bei den Unterstützern der Ukraine. Roderich Kiesewetter erneuert seine Kritik der vergangenen Tage an Olaf Scholz, der Bundeskanzler wolle gar nicht, dass die Ukraine den Krieg gewinnt. Der CDU-Außenpolitiker prangert an, die Bundesregierung müssen schwere Waffen "unmittelbar an die Ukraine schicken", ohne Ringtausch, und der Kanzler müsse sowohl klar sagen, dass er die Grenzen vom Januar unterstütze, als auch dem Land den Kandidatenstatus für die EU zusichern. "Die Wirkung nach außen ist eine fatale", sagt er, weil Scholz diesen Punkten nicht nachkäme.

"Nur die Ukrainer entscheiden", entgegnet Kevin Kühnert ganz auf Regierungslinie bezüglich des Kriegsziels. Es gehe erstmal darum, zu verhindern, dass der Donbass komplett an Russland fällt. "Unsere Waffen sollen dort eine Gleichheit herstellen und ein Stoppschild aufstellen", sagt der SPD-Generalsekretär. Auch die ZDF-Auslandsreporterin Katrin Eigendorf mahnt: "Wir sollten die Ukraine nicht dazu bewegen, einen halbherzigen Frieden einzugehen." Wladimir Putin habe nicht nur der Ukraine den Krieg erklärt, sondern dem Westen. Was in der Ukraine passiert, sei "ein Vernichtungskrieg, es geht nicht mehr darum, Gebiete einzunehmen und zu kontrollieren". Deshalb könne es "keine sichere Welt geben mit einem starken Putin", so Eigendorf.

Johannes Varwick sieht das anders. Größere Risse werden sichtbar und die Stimmung in der Talkrunde heizt sich auf, als der Professor für Internationale Beziehungen und europäische Politik an der Reihe ist. Er plädiert für "Nüchternheit und Realismus", man solle genau schauen, was in der jetzigen Situation noch erreichbar sei und mit welchen Mitteln man dem Land helfe. "Indem wir Waffen liefern, lassen wir den Krieg länger und blutiger werden", kritisiert er. Damit würde man "die Ukraine in einen aussichtslosen Kampf führen", sagt Varwick und mahnt: "Das, was wir machen, ist ein Ritt auf der Rasierklinge."

"Wir machen der Ukraine falsche Hoffnungen"

Der Experte für Internationale Beziehungen ist der Meinung, dass Moskau manche Ziele realistisch gesehen erreichen werde und die größere Fähigkeit zur Eskalation besäße. Doch immer mehr Waffen aus dem Westen führten "irgendwann zu einer Eskalation mit Russland" und Moskau könne am Ende auch nuklear eskalieren. "Unser jetziger Weg hat bisher keinen Erfolg und wird im Desaster enden", warnt Varwick. Stattdessen solle eine politische Lösung her. Die Ukraine könne etwa ein neutraler Staat werden, der sich nicht am westlichen Lager orientiert. Kühnert kontert: "Aber das ukrainische Volk hat sich über Jahre immer mehr dem Westen zugewandt", das dürfe man nicht einfach ausblenden.

"Wir machen der Ukraine falsche Hoffnungen", ist sich Varwick jedoch sicher. Vor dem Krieg und jetzt. Seine Lösung? Ein "bitterer und vielleicht auch schmutziger" Interessenausgleich mit Russland, was aber nicht hieße, die Ukraine zu opfern. Die Situation "einfrieren ist das Gebot der Stunde", ansonsten wäre die Ukraine verloren. Ein solcher Interessenausgleich hätte seiner Meinung nach auch schon vor dem 24. Februar stattfinden sollen, um den Krieg zu verhindern. Das nun bringt Eigendorf auf die Palme. "Wie hätte der denn bitte aussehen sollen?", fragt die Journalistin gereizt. Man hätte die Ukraine als besonderen Fall akzeptieren und versprechen müssen, so der Professor, dass das Land sich nicht weiter gen Westen orientiert. "Sie sprechen also einem Staat die Souveränität ab", wettert Eigendorf.

Als nächstes eckt Varwick bei Kiesewetter an. "Russland sitzt in der Ecke, da dürfen wir nicht noch drauftreten", erneuert der Experte für Internationale Beziehungen seinen Ruf nach einer politischen Lösung. "Die Ukraine sitzt in der Ecke", pampt der CDU-Sicherheitsexperte zurück. Varwick hofft jedoch, dass Bundeskanzler Scholz "hinter den Kulissen" eine ähnliche Auffassung durchsetzt und zusammen mit dem französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron und dem italienischen Ministerpräsidenten Mario Draghi "eine andere Linie" fährt als die der USA, Großbritanniens und der osteuropäischen Länder.

Varwick will Russland "nicht demütigen"

Risse im Konsens der Ukraine-Unterstützer zeigte nicht nur das Ringen um das Öl-Embargo der EU auf. Dass die Einigkeit bröckelt zeigen auch die verschiedenen Ecken, in denen sich die Westmächte aufstellen: Großbritannien, Polen und die baltischen Staaten, die eine eindeutige Niederlage Moskaus ohne jegliche Kompromisse über ukrainisches Territorium fordern, in der einen; Deutschland, Frankreich und Italien in der anderen. Tatsächlich sagte Macron im Mai ähnlich Varwicks Worten, man dürfe Russland nicht "demütigen". Auch die Telefonate Scholz' mit Putin zeigen, dass der Kanzler den Konflikt immer noch als einen politischen und nicht nur einen militärischen begreift.

Die Talkrunde bei Maybrit Illner findet an diesem Abend keine Lösung mehr, welche der vorgetragenen Aufrufe für mehr Waffen oder für mehr Appeasement-Politik nun ein Ende der Gewalt herbeiführen kann. Die unterschiedlichen Standpunkte verdeutlichen aber in jedem Fall, dass dieser Krieg zukünftig nicht mehr so einheitlich wie bisher betrachtet und behandelt werden wird. Das wird auch einen großen Einfluss auf seinen Ausgang haben. Weitere quälende Debatten mit "Gewürge" wie bei den Sanktionen liegen noch vor uns.

Quelle: ntv.de


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