Abgasaffäre: Rechtsgutachten bringt Autohersteller in Erklärungsnot

  05 April 2016    Gelesen: 520
Abgasaffäre: Rechtsgutachten bringt Autohersteller in Erklärungsnot
Die Abgasreinigung in Autos wird oft abgeschaltet. Die Hersteller rechtfertigen das mit angeblichen Ausnahmen im Gesetz. Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages widerspricht nun - und belastet damit auch das Verkehrsministerium.
In der Abgasaffäre droht den Autokonzernen neuer Ärger. Laut einer Ausarbeitung des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages sind die rechtlichen Vorgaben für Emissionskontrollen weit strenger, als es manche Unternehmen darstellen. Der europäische Rechtsrahmen sehe nur wenige Ausnahmen vor, in denen Fahrzeuge sogenannte Abschalteinrichtungen benutzen dürfen, heißt es in dem noch unveröffentlichten Dokument, das SPIEGEL ONLINE vorliegt.

Auslöser für die Untersuchungen des Dienstes sind neuere Messungen, die belegen, dass nicht nur Diesel-Fahrzeuge von VW, sondern auch Modelle anderer Hersteller im Realbetrieb deutlich höhere Emissionen ausstoßen als angegeben. VW musste im September einräumen, mit Hilfe einer illegalen Abschalteinrichtung (defeat device) im großen Stil bei Abgasmessungen betrogen zu haben. Nur so konnte der Konzern die strengen Umweltvorgaben für Dieselfahrzeuge in den USA und Europa erfüllen - und die für den Betrieb benötigte Typgenehmigungen erhalten.

Beim Einsatz einer sogenannten Abschalteinrichtung oder defeat device erkennt die Software, ob das Fahrzeug sich gerade im Labor befindet oder auf der Straße. Wird der Wagen auf Abgase getestet, schaltet die Software alle Abgasreinigungssysteme wie die Harnstoffeinspritzung des Dieselkatalysators ein, welche den Ausstoß der gefährlichen Stickoxide minimiert. Das verringert zwar womöglich die Motorleistung oder erhöht den Spritverbrauch, bringt aber die gewünschten Emissionswerte. Im Straßenbetrieb reduziert die Software die Abgasreinigung dann.

Hersteller wie Opel, Fiat oder Daimler hatten bisher bestritten, ihre Abgaswerte mit Hilfe einer Abschalteinrichtung zu frisieren. Tests der Deutschen Umwelthilfe ergaben bei diesen Marken aber ebenfalls auffällige Abgaswerte, die auf zweifelhafte Praktiken hindeuten.

Die Hersteller argumentieren, es sei ganz normal, dass in Laboren andere Abgaswerte gemessen würden als auf der Straße - unter anderem würden diese durch unterschiedliche Temperaturen oder dem Einsatz von weiteren Nebenverbrauchern im Alltag "wie zum Beispiel Klimaanlage oder Sitzheizung" heißt es dazu in einer Mitteilung von Daimler. Zudem erlaube die Rechtsprechung zahlreiche Ausnahmen für den Einsatz von Abschalteinrichtungen.

Daimler will nicht von einer Abschalteinrichtung sprechen

In einer Mitteilung an die Mitarbeiter hatte Daimler nach einem auffälligen Test einer Mercedes C-Klasse Anfang des Jahres zugegeben, dass Anpassungen der Abgasreinigung "an die jeweiligen Betriebsbedingungen" stattfinden, die den Wirkungsgrad beeinflussen". Von einer Abschalteinrichtung wollte der Konzern nicht sprechen.

Bei Temperaturen unter zehn Grad sorge eine Vorrichtung in der Motorsteuerung dafür, dass die Abgasreinigung zum Schutze des Motors runterreguliert würde. Auch BMW reduziere bei weniger als zehn Grad die Abgasreinigung - wie aus einem Brief von BMW an die Redaktion von Frontal 21 hervorgeht. Messungen bei Opel und Fiat deuten auf eine vergleichbare Technik hin. Diese sei nicht illegal, behaupteten alle Hersteller unisono.

Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags sieht das anders. Zwar sei der "punktuelle, vorübergehende Einsatz von Abschalteinrichtungen" zum Schutze des Motors oder anderen Bauteilen zulässig, heißt es in der Analyse des europäischen Rechtsrahmens. Dieses Privileg sei allerdings "eng auszulegen". Die Vorschrift gebe keine Erlaubnis, eine Abschalteinrichtung "regelmäßig" einzusetzen. Auch bei Bedingungen, "die bei normalem, bestimmungsgemäßem Gebrauch eines Pkw typischerweise eintreten" seien sie nicht zulässig.

Eine Temperatur von zehn Grad ist in gemäßigten Klimazonen alles andere als punktuell oder unnormal. Nach der Rechtsauffassung des Wissenschaftlichen Dienstes wäre das Vorgehen der Autokonzerne wie Daimler somit illegal.

Kumpanei zwischen Autoindustrie und Bundesregierung

"Wir sind davon überzeugt, dass die Regelung des Abgasnachbehandlungssystems für den Motorschutz und den sicheren Betrieb des Fahrzeugs innerhalb der gesetzlichen Vorgaben erfolgt. Diese Maßnahme ist eine technische Notwendigkeit, die nicht Mercedes-spezifisch ist", teilte Daimler auf Anfrage von SPIEGEL ONLINE mit.

Allerdings gab der Konzern zu, dass sich künftig die "Maßnahmen zum Motor- bzw. Bauteilschutz deutlich reduzieren" - durch neueste Technologien, wie sie etwa bei der "neuen Dieselmotorenfamilie von Mercedes-Benz zum Einsatz kommen". Mit anderen Worten: In neuen Fahrzeugen der Marke wird die Abgasnachbehandlung nicht bei Temperaturen unter zehn Grad abgeschaltet.

Die Analyse des Wissenschaftlichen Dienstes belastet auch die Bundesregierung. Nach der Rechtsauffassung des Gremiums hat das dem Verkehrsministerium unterstellte Kraftfahrtbundesamt den Autokonzernen für manche Fahrzeuge illegal Typengenehmigungen ausgestellt und somit womöglich selbst gegen EU-Gesetze verstoßen.
Obwohl Verkehrsminister Dobrindt sich zu Beginn der VW-Affäre öffentlich zu konsequenter Aufklärung verpflichtet hat, bleibt er die Umsetzung des Versprechens bisher schuldig, Nachmessungen bei verschiedenen Herstellern und deren Ergebnisse werden geheim gehalten. Auch das Bekanntwerden der Abschaltverfahren bei Daimler, BMW und Co. blieb bisher folgenlos. Zu dem Papier des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages nahm Dobrindts Ministerium nicht Stellung.

Der Grünen-Fraktionsvize Oliver Krischer fordert die Regierung auf, für eine strikte Einhaltung der EU-Richtlinien in Deutschland zu sorgen. "Die Kumpanei zwischen Bundesregierung und Autobranche", sagt er, "muss endlich ein Ende haben".

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