Um zu verstehen, weshalb das Gericht diese unerwartete Entscheidung getroffen hat, muss man sich noch einmal die strafrechtlichen Vorwürfe vor Augen führen: Die Staatsanwaltschaft hatte im Februar 2014 den Duisburger Stadtentwicklungs-Dezernenten Jürgen Dressler sowie fünf Mitarbeiter des städtischen Bauamts und vier Verantwortliche des Veranstalters Lopavent wegen fahrlässiger Tötung und Körperverletzung angeklagt.
Nach Auffassung der Staatsanwaltschaft waren Fehler in der Planung ursächlich für die Katastrophe mit 21 Toten und Hunderten Verletzten. Weil sich zu viele Menschen auf zu engem Raum gedrängt hätten, "musste es zwangsläufig zu einem Versagen des Systems kommen", sagte der Leitende Oberstaatsanwalt seinerzeit. Die Planer und ihre Kontrolleure hätten erkennen müssen, dass lebensgefährliche Situationen entstehen würden, hieß es in der 556-seitigen Anklage. Dabei stützten sich die Ermittler im Wesentlichen auf das Gutachten des britischen Panikforschers Keith Still, an dem schon bald Zweifel aufgekommen waren.
Verheerend lange Fehlerliste
Das Landgericht Duisburg zerlegt Stills Expertise nun vollständig. Die Arbeit des Professors weise erhebliche inhaltliche und methodische Mängel auf, befindet die Kammer. Zudem habe er gegen "grundlegende Pflichten" eines Sachverständigen verstoßen, woraus die Unverwertbarkeit seiner Arbeit resultiere. So habe sich Still in Veröffentlichungen und Vorträgen mit der Love Parade befasst und dabei seine Neutralitätspflicht verletzt. Hinzu kommt noch eine verheerend lange Liste von handwerklichen Fehlern:
Still ließ laut Gericht "sämtliche andere mögliche Unglücksursachen, insbesondere Handlungen der die Veranstaltung vor Ort begleitenden Personen" außer Acht.
Still legte demnach seinen Berechnungen Planzahlen des Veranstalters über Besucherströme zugrunde, von denen er zugleich behauptete, sie seien manipuliert. Zudem konnte er laut Gericht die Teilnehmerzahlen der Love Parade, die er unterstellte, nicht begründen. Außerdem widersprach er sich mit Angaben darüber, wie viele Personen zu welcher Zeit auf dem Gelände waren.
Still befasste sich dem Beschluss zufolge auch nicht mit den in Deutschland geltenden Normen und Regeln für Großveranstaltungen. Die Maßstäbe, nach denen er die vermeintlichen Fehler der Angeklagten erkannt haben wollte, wurden "nicht nachvollziehbar begründet", rügt das Gericht.
Still verwechselte laut Beschluss Kausalität mit Vorhersehbarkeit. Im deutschen Strafrecht ist es aber für die Frage der Schuld unerlässlich, den Weg eines konkreten Fehlers zu einer konkreten Verletzung lückenlos nachzeichnen zu können.
Starke Zweifel hegt das Gericht auch an der von der Staatsanwaltschaft und Still dargelegten Unumkehrbarkeit des Geschehens. Bislang ging die Anklage auf Grundlage des Gutachtens davon aus, dass die aus Planungsfehlern resultierenden Ereignisse am Nachmittag des 24. Juli 2010 ab einem Zeitraum von 15.30 bis 16.02 Uhr zwangsläufig zu einer Katastrophe führen mussten - egal was noch getan wurde. Das Gericht sieht das anders: Demnach kommen noch andere Ursachen für das Unglück in Betracht, etwa die eingezogenen Polizeiketten, die unterlassene Schließung der Zugänge und später entfernte Zäune an den Einlassanlagen.
Seitenhieb auf die Staatsanwaltschaft
Die Zweifel der 5. Großen Strafkammer an der Anklage sind am Ende so groß gewesen, dass sie eine Verurteilung der Angeklagten für unwahrscheinlich halten musste. Der Tatverdacht gegen die neun Männer und eine Frau war somit nicht mehr hinreichend, wie es im Juristendeutsch heißt. Die zwangsläufige Folge: Das Hauptverfahren wird nicht eröffnet. Eine andere Möglichkeit sieht die Kammer nicht.
Und daher kann sie sich in ihrem Beschluss offenbar auch einen Seitenhieb auf die Arbeit der Duisburger Ankläger nicht verkneifen. Es sei nicht die Aufgabe des Gerichts, vor dem Prozess "wesentliche Teile des Ermittlungsverfahrens nachzuholen". Nachforschungen "größeren Umfangs zur Komplettierung eines von der Staatsanwaltschaft unzulänglich belegten Anklagevorwurfs sind gesetzlich nicht vorgesehen", befindet die Kammer. Das ist deutlich.
Staatsanwaltschaft und Nebenkläger können binnen einer Woche Beschwerde gegen den Beschluss einlegen. Darüber muss dann das Oberlandesgericht Düsseldorf entscheiden.
Quelle : spiegel.de
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