Wie die Ukraine ihren Luftraum verteidigt

  21 November 2022    Gelesen: 433
  Wie die Ukraine ihren Luftraum verteidigt

Russland terrorisiert die Ukraine mit Kamikazedrohnen, Raketen und Marschflugkörpern. Kiews Luftabwehrsystem ist lückenhaft. Helfen sollen Systeme aus dem Westen, unter anderem das hochmoderne deutsche Luftabwehrsystem Iris-T. Doch auch dieses garantiert keinen flächendeckenden Schutz.

Es ist eine neue Eskalation im Ukraine-Krieg: Am vergangenen Dienstag schlägt im Südosten Polens eine Rakete ein, nur sieben Kilometer entfernt von der ukrainischen Grenze. Zwei Menschen sterben. Am Abend wird in Medien spekuliert, dass es eine russische Rakete war. Das vermutet auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj. Immerhin ist es laut der polnischen Regierung eine S-300, eine Flugabwehrrakete sowjetischer Bauart. Dieser Typ wird von mehreren Ländern genutzt, unter anderem von Russland, aber auch von der Ukraine.

Einen Tag später teilt NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg mit, der Vorfall sei wahrscheinlich durch eine ukrainische Flugabwehrrakete verursacht worden, die zur Abwehr russischer Raketenangriffe abgefeuert worden sei. Das sei aber nicht die Schuld der Ukraine. Russland trage die Verantwortung, da Moskau den illegalen Krieg gegen die Ukraine ständig fortsetze, so Stoltenberg.

Die Luftabwehr der Ukraine hat momentan viel zu tun. Am selben Tag, an dem die Rakete in Polen eingeschlagen ist, hat Russland auch das ukrainische Stromnetz massiv beschossen. Über 90 Raketen und Marschflugkörper hat die Ukraine innerhalb von 24 Stunden gezählt. An zwei ukrainischen Kernkraftwerken wurden Reaktorblöcke zur Sicherheit automatisch abgeschaltet, so Selenskyj. Millionen Menschen waren ohne Strom. Allein in Kiew fiel in rund zehn Millionen Haushalten der Strom aus, teilte die ukrainische Regierung mit. In der Hauptstadt wurden mehrere Wohngebäude getroffen.

Munition für Luftabwehrsysteme schwer zu bekommen

Als "chaotisch" schätzt Oberst Markus Reisner bei ntv die Lage ein. Die ukrainische Luftwaffe müsse Ziele treffen, die aus verschiedenen Richtungen kommen. "Da kann es natürlich passieren, dass Raketen, die ihre Ziele nicht treffen, fehlgeleitet werden und dann woanders einschlagen", sagt Reisner.

Die russischen Angriffe haben die Luftabwehr der Ukraine geschwächt. In den ersten Kriegstagen habe die russische Armee sie gezielt attackiert, berichtet Reisner. Im Sommer habe die ukrainische Armee mit der Flugabwehr ihre Bereitstellungsräume geschützt, also die Gebiete, in denen Truppen und Waffen gelagert werden. Als Vorbereitung für die Offensiven gegen Russland. Es habe aber an Nachschub für die ukrainische Luftabwehr gefehlt. Die Arsenale an Flugabwehrraketen hätten sich geleert, berichtet Reisner.

Nachschub an Munition zu bekommen, sei schwierig. Denn die Ukraine verwende Systeme sowjetischer Bauart. "Man kann also die Ukraine nicht mit S-300 Raketen beliefern, weil es die in Europa nicht gibt", sagt der Militärexperte. Darum sei es wichtig, schnell europäische oder amerikanische Systeme nachzuliefern: "Da gibt es dann die Munitionsmengen, die dazu geeignet sind, diesen Abwehrkampf weiterzuführen."

Ukraine besitzt hauptsächlich sowjetische Systeme

Es gibt unterschiedliche Zahlen dazu, wie viele Flugabwehrsysteme die Ukraine hat. Das britische Forschungsinstitut International Institute for Strategic Studies (IISS) zählt in seinem Bericht "Military Balance 2021" 322 Flugabwehrsysteme mit größerer Reichweite in der Ukraine. Bei 250 davon handelt es sich demnach um die sowjetischen S-300-Systeme. 72 davon seien Buk-Systeme, die ebenfalls in der Sowjetunion entwickelt wurden und auch heutzutage von der russischen Armee benutzt werden.

Laut dem Militärexperten Gustav Gressel vom European Council on Foreign Relations besitzt die Ukraine viel weniger Flugabwehrsysteme, nur 10 Buk- und 31 S-300-Systeme.

Wie viele davon nach rund acht Monaten Krieg überhaupt noch übrig sind, ist nicht klar. Viele Flugabwehrsysteme hat die Ukraine durch die Angriffe der Russen schon verloren, sagt Markus Reisner.

Deutschland liefert Iris-T an Ukraine

Seit Oktober kann das ukrainische Militär auch das modernste Flugabwehrsystem überhaupt nutzen: das deutsche Iris-T SLM. Deutschland hat eins davon an die Ukraine geliefert. Im Juni hatte Bundeskanzler Olaf Scholz der Ukraine das Flugabwehrsystem versprochen - drei Monate später hat Deutschland geliefert.

Selbst die Bundeswehr setzt Iris-T noch nicht ein. Sie soll es erst 2025 bekommen. Das Waffensystem des deutschen Rüstungsunternehmens Diehl Defence kostet 140 Millionen Euro.

Iris-T besteht aus einer Radaranlage, einem Gefechtsstand und drei Raketenwerfern, die auf Lastwagen befestigt sind. Dadurch ist es mobil. Das System kann auf Ziele feuern, die bis zu 40 Kilometer entfernt sind - oder bis zu einer Flughöhe von bis zu 20 Kilometern. Damit können Hubschrauber, Flugzeuge, Marschflugkörper oder ballistische Raketen abgeschossen werden. Das 360-Grad-Radar ermittelt, aus welcher Richtung der Angriff kommt. Die Feinjustierung übernimmt dann am Ende die Rakete, ihr Suchkopf kann auf Infrarot reagieren. Außerdem ist eine GPS-Steuerung eingebaut.

Iris-T ist nur der Anfang

Iris-T spannt eine Art Schutzschirm und kann eine mittlere Großstadt wie Nürnberg oder Hannover schützen. Damit könne die Ukraine ihre Regierungszentren, kritischen Infrastrukturen und Logistikzentren schützen, sagt Oberst a.D. Ralph Thiele bei ntv. Das sei natürlich nur ein Anfang. In diesem großen Land bräuchten sie viel mehr davon.

Deutschland will noch drei weitere dieser Flugabwehrsysteme in die Ukraine schicken. Allerdings erst im nächsten Jahr. Für den Hersteller Diehl Defence sei es aufwändig, diese "hochkomplexen, hochmodernen Systeme" zu produzieren, sagt Bundesverteidigungsministerin Christine Lambrecht.

"Wir rechnen damit, dass sich die Kampfhandlungen im Winter jetzt deutlich verlangsamen werden", argumentiert Ralph Thiele. Erst im Frühjahr gehe es wieder richtig los. Und mehr solcher Systeme habe Deutschland ohnehin nicht.

Flugabwehrsysteme bei Schwarmangriffen überfordert

Bisher hat Iris-T seine Aufgabe anscheinend gut erfüllt. Die Ukrainer loben es als sehr treffsicher. Besonders rund um Kiew hat es offenbar schon viele Menschenleben gerettet. Der "Economist" schreibt, das Flugabwehrsystem habe bisher jedes Projektil abgeschossen, "das sich ihr in den Weg gestellt hat".

Einen 100-Prozentigen Schutz gegen gegnerische Flugobjekte gibt es zwar nicht, weil zum Beispiel viele gleichzeitig angreifende Objekte Iris-T auch überfordern können. Aber das könne auch bei anderen Flugabwehrsystemen passieren, sagt Markus Reisner bei ntv.

"Das Problem all dieser Abwehrsysteme ist der Faktor der Übersättigung. Wenn der Gegner mit vielen Drohnen gleichzeitig angreift wie ein Schwarm, dann ist das Problem, dass das Abwehrsystem nur eine gewisse Anzahl von Raketen dabeihat und bei fünfzehn Drohnen werden zwölf abgeschossen, drei treffen aber ihr Ziel. Und wenn die drei relativ präzise treffen, dann ist das Ziel trotzdem zerstört", erläutert Reisner.

Ukrainische Luftabwehr hat "erhebliche Schwächen"

Die Drohnen, die Russland momentan hauptsächlich nutzt, sind ein massives Problem für die Ukraine: Die iranischen Kamikazedrohnen Schahed-136. Sie sind nur 2,50 Meter breit und 3,50 Meter lang, aber zerstörerisch. Russland hat im Iran rund 2400 Drohnen bestellt, schätzt der ukrainische Geheimdienst. Russland will sie in Zukunft selbst herstellen, berichtet die "Washington Post". Damit könnte Moskau die Attacken ausweiten.

Mit diesen unbemannten, propellerbetriebenen Drohnen greift Russland ukrainische Städte an. Sie haben bereits um die 40 Prozent der ukrainischen Energie-Infrastruktur zerstört.

"Nicht jede Drohne kommt ins Ziel. Aber letztlich haben sie sich doch als vergleichsweise effektive Waffe erwiesen. Das haben die Bürgerinnen und Bürger in Kiew spüren müssen", erzählt Sicherheitsexperte Markus Kaim von der Stiftung Wissenschaft und Politik bei ntv. Es sei klar geworden, "dass die ukrainische Luftabwehr doch erhebliche Schwächen aufweist. Sie ist in der Lage gewesen, viele dieser Kamikazedrohnen herunterzuholen. Aber letztlich ist ein flächendeckender Schutz nicht möglich gewesen."

Schahed-136 schwer zu zerstören

Die Kamikazedrohnen sind zwar langsamer als Raketen oder Marschflugkörper, fliegen aber tiefer. Und können mithilfe eines Satellitenkommunikationssystems direkt stationäre Ziele ansteuern.

Die Drohnen sorgen dafür, dass die Ukraine ihre wertvolle Munition auf sie verfeuert. Sie sind günstig - gerade auch verglichen mit Iris-T-Raketen - und einfach herzustellen.

Die Schahed-136 zu zerstören, ist schwierig. Weil sie relativ klein sind, könnten die Flugabwehrsysteme sie nicht so leicht erfassen, erklärt Markus Reisner ntv.de. Dafür brauche man Systeme, mit entsprechenden Sensoren. Diese würden die Drohnen erkennen. Raketen oder Maschinenkanonen könnten sie anschließend abfangen. Man brauche Luftabwehrsysteme mit entsprechender Reichweite, so Reisner bei ntv.

Westen liefert bodengestützte Systeme

Die USA, Norwegen und Spanien helfen deshalb aus. Anfang November haben die drei Staaten Luftverteidigungssysteme an die Ukraine geliefert. Es handelt sich um bodengestützte Systeme vom Typ Nasams und Aspide. Sie kommen aus US-amerikanischer und italienischer Produktion. Die USA wollen außerdem noch vier mobile Luftabwehrsysteme vom Typ Avenger mit kurzer Reichweite liefern. Dazu kommen die passenden Stinger-Raketen und noch weitere Raketen für die älteren Luftabwehrsysteme vom Typ Hawk, die Spanien der Ukraine versprochen hat.

Im April hatte zudem die Slowakei ein S-300-System an die Ukraine geliefert.

Die Ukraine würde auch gern den israelischen Luftabwehrschirm Iron Dome haben. Israel will ihn aber bisher nicht liefern. Generell sind Waffenlieferungen an die Ukraine ein Tabu für die israelische Regierung. Sie will ihre Beziehungen zu Russland nicht gefährden und verhält sich daher bisher weitgehend neutral.

Vielschichtige Luftverteidigung wichtig

Einen flächendeckenden Schutzschirm für die ganze Ukraine gibt es nicht, gibt der Militärökonom Marcus Keupp von der ETH Zürich im ZDF zu bedenken. Das Land ist einfach zu groß. Jedes Luftabwehrsystem könne nur ein bestimmtes Ziel schützen. Ein Teil der Luftabwehr sei an den Donbass und die Front verlagert worden. "Diese Systeme fehlen ihnen jetzt im Raum Kiew oder auch in den anderen Städten beziehungsweise bei den Energie-Infrastrukturen", erklärt Keupp.

Zudem müsse die Luftverteidigung vielschichtig sein, verschiedene Waffensysteme müssten sich gegenseitig unterstützen, schreibt Gustav Gressel bei Twitter. Russland nutze viele verschiedene Waffensysteme. Neben den Kampfdrohnen noch ballistische Raketen, Marschflugkörper und Flugabwehrraketen. Die hätten jeweils eine ganz unterschiedliche Reichweite, Geschwindigkeit und Flughöhe.

Die Ukraine braucht also viele verschiedene Luftabwehrsysteme, um sich gegen den russischen Angriffssturm zu wehren. Und auch die Munition dafür.

Quelle: ntv.de


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