Warum die "Zeitenwende" stockt

  30 Dezember 2022    Gelesen: 784
  Warum die "Zeitenwende" stockt

Mit 100 Milliarden Euro Sondervermögen wollte Olaf Scholz die "Zeitenwende" in der Sicherheitspolitik anschieben. Doch Geldmangel ist nicht das einzige Problem. Wie steht es um die dringend nötige Reform?

Es ist keine drei Tage her, dass Wladimir Putin seine Truppen losgeschickt hat, um die ukrainische Hauptstadt Kiew einzunehmen, da tritt im Deutschen Bundestag der Kanzler ans Rednerpult. Am 27. Februar fasst Olaf Scholz die bis dato teuersten und umfangreichsten Pläne für eine Ertüchtigung der Bundeswehr mit einem Begriff zusammen, der später im Herbst zum "Wort des Jahres" gekürt werden wird: Zeitenwende.

"Wir erleben eine Zeitenwende", sagt Scholz. "Das bedeutet: Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor." Tatsächlich erscheint vielen in jenen Tagen die Zeit über Nacht eine andere geworden. Erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg wird ein Vernichtungsfeldzug gegen einen souveränen europäischen Staat geführt. Die Zeitenwende verweist auf das Ungeheuerliche, das gerade in und mit Europa passiert und Handeln erfordert.

Den trägen Tanker stoppen

Doch die Zeitenwende des Kanzlers könnte noch mehr: Sie ist nicht nur Ursache, sie taugt auch zum Ziel. Nötig wird es sein, die Zeit selbst zu wenden - in der deutschen Außen- und Verteidigungspolitik, die versagt hat und nach Neuausrichtung verlangt. Gescheitert ist die naive Annahme, einem Imperialisten wie Wladimir Putin sei mit guten Worten und Wirtschaftsbeziehungen beizukommen. Die Panzer, die auf Kiew rollen, geben die von Angela Merkel geprägte "Wandel durch Handel"-Strategie auf Russland bezogen der Lächerlichkeit preis.

Nun also lautet das Gebot der Stunde: den trägen Tanker stoppen, Schubumkehr und mit voller Kraft eine andere Richtung einschlagen. Für den Faktor "volle Kraft" steht nach der Scholz-Rede die stattliche Summe von 100 Milliarden Euro im Raum. Als "Sondervermögen" soll sie die Befähigung der Bundeswehr finanzieren. Ein kluger Schachzug, denn eine einfache Aufstockung des Bundeshaushalts wäre wegen der Schuldenbremse nicht möglich. Das Sondervermögen bedeutet, dass dieses Geld, gleichwohl beschafft durch neue Schulden, ausschließlich für die Zeitenwende investiert werden darf. Für das Finanzministerium macht das den entscheidenden Unterschied, der es ermöglicht, diesen neuen Schulden zuzustimmen.

Doch die Stattlichkeit der Milliardensumme nimmt deutlich ab, wenn man sie mit den 64 Milliarden Euro vergleicht, die sich als Fehlbetrag aus der Sparpolitik im Verteidigungshaushalt der vergangenen drei Jahrzehnte summieren. So lautet die Analyse der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Die langjährige Unterfinanzierung, die erst in den letzten Jahren ansatzweise korrigiert wurde, hat große Fähigkeitslücken in die Ausstattung der Bundeswehr gerissen.

Zwei weitere Faktoren schmälern das Sondervermögen zusätzlich: Zum einen schlägt die Inflation in der Rüstungsindustrie stärker zu Buche als in anderen Branchen. Zum anderen soll das Sondervermögen in fünf Jahren ausgegeben sein. So funktioniert der Markt: Wer unter Zeitdruck Geld investieren muss, wird bei den Anbietern nicht die besten Preise erzielen. Zumal, wenn angesichts der fragilen weltpolitischen Lage andere Regierungen ebenfalls auf die Idee kommen, ihre Armeen besser auszurüsten - und im Zweifelsfall wegen schlankerer Bürokratie schon längst neue Waffen und Munition bestellt haben, wenn Deutschland mal das Diskutieren anfängt.

Ein Satz voller Selbstverständlichkeiten

Das Ziel aller Bemühungen ist laut Scholz "eine leistungsfähige, hochmoderne, fortschrittliche Bundeswehr, die uns zuverlässig schützt". Ein Satz, der aus lauter Selbstverständlichkeiten zu bestehen scheint, die gemessen am Zustand des deutschen Heeres aber nicht selbstverständlich sind. Entsprechend lang war die Einkaufsliste des Bundesverteidigungsministeriums (BMVg), die im Juni öffentlich wurde.

Den größten Posten bildet auf der "Wirtschaftsplan" genannten Liste die "Dimension Luft". Sie umfasst unter anderem den US-Kampfflieger F-35, der den veralteten Tornado ersetzen soll. Dann will das Ministerium weitere schwere Transporthubschrauber CH-47 beschaffen, den Eurofighter für den elektronischen Kampf weiterentwickeln, leichte Unterstützungshubschrauber für das Heer bestellen und die bereits vorhandene Drohne Heron TP bewaffnen.

Mit veranschlagten Kosten von 40 Milliarden Euro nahmen die Projekte für diese Dimension das größte Volumen ein. Aber auch die Listen für die Dimensionen See und Land sowie ein eigener Posten für Digitalisierung und Führungsfähigkeit waren lang und kostenintensiv. Zu lang und zu kostenintensiv, wie der Bundesrechnungshof nach einer Prüfung des Wirtschaftsplans im Herbst feststellte.

In seiner Stellungnahme kritisiert er unter anderem, "dass das BMVg bei seiner Planung Ausgaben für den Schuldendienst ab dem Jahr 2024 noch nicht berücksichtigt hat. Ein 'Puffer' für steigende Zinsen und für inflationsbedingt steigende Beschaffungs- und Entwicklungsausgaben ist ebenfalls nicht erkennbar". Die Prüfbehörde mahnt zu mehr Vorsicht bei der Planung.

Dass das Ministerium zunächst nicht mal die Inflation eingepreist hatte, die die Kaufkraft der 100 Milliarden über die nächsten Jahre ganz von allein schmälern wird, spricht nicht dafür, dass Christine Lambrecht ihr Ressort auf die großen Herausforderungen, die eine echte Zeitenwende mit sich bringen würde, eingestellt hat. Militärhistoriker Sönke Neitzel vermisst im ZDF-Interview die Bereitschaft, "groß zu denken und das auch umzusetzen", um die "großen Probleme anzugehen". Deutschland sei gerade dabei, "die Zeitenwende mit Karacho gegen die Wand zu fahren".

Zu kleinteilig, zu komplex

Wo die großen Probleme bei der Ausrüstung der Bundeswehr liegen, hat Michael Brzoska vom Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Uni Hamburg untersucht. "It’s not the money, stupid" – "Es geht nicht ums Geld, Dummchen", heißt die Studie, die unter anderem Risikoscheue bei der Beschaffungsbürokratie beklagt. Die Verwaltungsvorgänge sind laut Untersuchung so kleinteilig und komplex, dass sich Verfahren viel zu sehr in die Länge ziehen.

Brzoskas Kritik wird ähnlich auch im Beschaffungsapparat selbst geäußert. Um sich vor Klagen von Anbietern zu schützen, die bei einer Vergabe nicht berücksichtigt wurden, müssen kistenweise Akten angelegt werden. Die Vorschriften verlangen selbst für die Bestellung eines neuen Modells langer Unterhosen so umfassende Prüfung auf nachhaltige Herstellung, Haut- und Umweltverträglichkeit, Einhaltung aller EU-Richtlinien und viele weitere Parameter, dass es in der Vergangenheit schon mal neun Monate dauern konnte, bis der Auftrag für die Lieferung neuer langer Unterhosen überhaupt ausgeschrieben war.

Wieviel Prüfungsvorgänge es verlangt, einen milliardenschweren Auftrag für Kampfjets zu vergeben, sprengt wohl die Möglichkeiten der eigenen Fantasie. Die Kritik deutscher Sicherheitsexperten zielt darauf ab, dass sich an diesem verschachtelten, mit Vorschriften überfrachteten Verwaltungsapparat bislang noch nichts verändert hat. Nötig aber sei, das System zu entschlacken, Hierarchien zu verschlanken, Redundanzen zu minimieren, Kompetenzen zu bündeln.

Doch das BMVg als ein an solchen Vorgängen beteiligtes Haus arbeitet völlig anders. Es gebe dort eine ganze Hierarchieebene, so heißt es, die in keinem anderen Ministerium bestehe. Vereinfacht gedacht also eine zusätzliche Etage mit Schreibtischen auf denen Papiere zur Prüfung landen, die vorher bereits auf anderen Schreibtischen zur Prüfung lagen, was den gesamten Prüfungsvorgang noch einmal verlängert.

Dass Verteidigungsausgaben geprüft und kontrolliert werden müssen - kein Zweifel. Wenn das jedoch in Dimensionen betrieben wird, die den Apparat an den Rand der Handlungsfähigkeit bringen, nützt es nichts, ein paar Schrauben zu drehen. Das ganze System muss neu ausgerichtet werden. Sönke Neitzel sieht für eine solche Reform keine Bereitschaft, weder bei der Ministerin noch im Kanzleramt.

16 Panzer-Typen in europäischen NATO-Staaten

Michael Brzoska vermisst in seiner Analyse auch die klare Zielsetzung bei der Beschaffung. Seit Jahren schon ist man sich in EU und NATO einig, dass es sinnvoll ist, wenn Partnerländer auf dieselben Waffentypen setzen, womöglich sogar gemeinsam bestellen. Eine höhere Stückzahl senkt die Produktionskosten der Unternehmen und vereinfacht die Weiterentwicklung. Für die Kooperation der Armeen ist es enorm von Vorteil, wenn Soldaten unterschiedlicher Nationen mit denselben Waffen vertraut sind.

Soweit die Theorie. In der Praxis nutzen allein die europäischen NATO-Staaten 16 verschiedene Typen von Schützenpanzern. Ringt man sich doch zu einer gemeinsamen Auftragsvergabe durch, entwickeln viele der beteiligten Regierungen - die Deutschen auf jeden Fall - nationale Sonderwünsche, die mit eingebracht werden.

Zu häufig streben Beschaffer, aber auch die Bundeswehr selbst die sogenannte "Goldrand"-Lösung an mit lauter Extra-Kniffen für jede erdenkliche Gefechtslage. Als Beispiel nennt Brzoska die Beschaffung von zwei Tankschiffen, bei denen die Marine auf einer speziellen Anfertigung bestand, "obwohl nach Einschätzung von Bundesrechnungshof, von Preisprüfern des Beschaffungsamtes und externen Experten eine deutlich billigere Lösung" möglich gewesen wäre. Was abseits von deutlicher Kostensteigerung noch droht, wenn Geräte technisch überfrachtet werden, hat der Pannen-Panzer "Puma" Mitte Dezember vorgeführt: Totalausfall.

Ein weiterer Faktor, der zu hohen Mehrkosten führt, ist die Bevorzugung der eigenen Rüstungsindustrie gegenüber ausländischen Firmen, die bessere Preise machen würden. Grundsätzlich ist das Ansinnen, die deutsche Rüstungsbranche zu beauftragen, nachvollziehbar. Doch muss bei den eklatanten Fähigkeitslücken, die schon seit Jahren in der Bundeswehr klaffen, das Preis-Leistungs-Verhältnis an erster Stelle stehen. Standortpolitik kann man sich im derzeitigen Desaster nicht leisten.

Und selbst dann, wenn überhaupt nichts dagegenspricht, beim heimischen Hersteller zu bestellen, etwa wenn es um das Auffüllen der erschütternd niedrigen Munitionsbestände geht, kommt Deutschland nicht vor die Lage. Der kürzlich abgehaltene Munitionsgipfel im Kanzleramt brachte einen Austausch zwischen Politik und Rüstungsindustrie, jedoch keine konkreten Bestellungen.

Ein Lichtblick immerhin ist die Genehmigung des Haushaltsausschusses im Bundestag, 35 Tarnkappenjets des US-Herstellers Lockheed-Martin zu kaufen. Die F-35 fliegen bereits in mehreren europäischen Armeen und bieten eine ausgefeilte Stealth-Technik, die es einem feindlichen Radar schwer macht, den Flieger zu orten. Richtig spannend jedoch wird es jetzt, wenn sich zeigt, wieviel Zeit ins Land gehen wird zwischen Beschluss und Bestellung.

Quelle: ntv.de


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