"Wir kommen in eine brutale Phase"

  16 Juni 2023    Gelesen: 703
 "Wir kommen in eine brutale Phase"

Die Sommeroffensive der Kiewer Armee kommt bisher nur langsam voran. Bilder von ukrainischen Verlusten kursieren. In der Talkshow von Maybrit Illner sind sich die Gäste einig: Der Krieg in Osteuropa könnte noch sehr lange dauern - doch auch ein ukrainischer Erfolg bleibt möglich.

Die Bilder von der Sommeroffensive der ukrainischen Armee sind grausam. Immer wieder werden tote Soldaten und zerstörte westliche Panzer gezeigt, die russische Armee scheint Durchbruchsversuche der Ukrainer abzuwehren. Die ukrainische Militärführung berichtet von kleineren Geländegewinnen. Wie erfolgreich ist die ukrainische Offensive wirklich? Das möchte am Donnerstagabend Maybrit Illner in ihrer ZDF-Talkshow herausfinden. Die Gäste sind sich in ihrer Bewertung ziemlich einig.

"Die Bilder gehören zu einem Krieg, den wir alle nicht wollten", sagt SPD-Chef Lars Klingbeil. Der CDU-Militärexperte Roderich Kiesewetter fügt hinzu: "Wir sollten begreifen, dass dieser Krieg ein Marathonlauf ist." Die hohen Verluste besonders bei der Zivilbevölkerung seien eine Folge der russischen Terrorangriffe. Die ukrainischen Soldaten versuchten alles, um ihr Land zu befreien, mit der Unterstützung aus dem Westen.

Die westlichen Länder leisteten nach einer Unterbrechung im Herbst jetzt wieder mehr Unterstützung, und dafür habe auch Bundesverteidigungsminister Pistorius gesorgt. "Aber die Ukraine wird ohne unsere Unterstützung den Krieg nicht durchstehen. Darum müssen wir noch mehr tun. Und wir müssen unsere Bevölkerung darauf vorbereiten, dass wir in einen langjährigen Krieg gehen." Das Ziel müsse die Befreiung und die Wiederherstellung der Souveränität der Ukraine sein, damit Russland keine Nachahmer finde. Russland müsse seine kolonialen Ansprüche aufgeben.

Warnung vor Moskaus Propaganda

Der ehemalige Diplomat Wolfgang Ischinger hält die Bilder, die in den letzten Tagen veröffentlicht wurden, für russische Propaganda. "Wenn das Prinzip richtig ist, dass man mit einer dreifachen Stärke angreifen muss, dann heißt das ja, dass man mit Verlusten rechnen muss. Sonst müsste man nicht mit erheblich größeren Mitteln eindringen", so Ischinger.

André Wüstner spricht von einer "Phase massiver Geheimhaltung" auf ukrainischer Seite. Der Oberst des Heeres der Bundeswehr und Vorsitzende des Deutschen Bundeswehrverbandes ist sich aber sicher: Das Verteidigungsministerium und der Bundesnachrichtendienst haben einen guten Blick auf die Lage. "Aber es geziemt sich nicht, an der Lagekarte zu stehen und aufzuzeichnen, wo welcher Gefechtsverband und welche Brigade in einem Verfügungsraum ist oder schon operiert."

Russland führe nicht nur einen Krieg gegen die Ukraine, sondern auch einen Informationskrieg gegen den Westen. "Der russischen Propaganda würde ich keinesfalls glauben", so Wüstner. Was man aber vorhersehen könne: In den nächsten Wochen und Monaten würden Streitkräfte aufeinanderprallen. Dabei werde viel Material zerstört werden. "Wir kommen in eine brutale Phase, und die Bilder werden noch brutaler."

"Die Ukraine gewinnt die Initiative zurück"

Im vergangenen Herbst hatte die ukrainische Armee das Überraschungsmoment auf ihrer Seite. Das ist jetzt anders, erklärt Wüstner. Die russische Armee habe sich in den letzten Monaten auf die Offensive vorbereiten können und Minenfelder, Panzergräben, sogenannte Drachenzähne und Stellungssysteme zur Verteidigung angelegt. "Und es wird gerade für die ukrainische Armee richtig schwierig anzutesten, wo die Schwachstellen sind und einen Einbruch zu wagen." Deswegen sei die "gute und brutale Kampfmoral" der ukrainischen Soldaten von Vorteil. Die russischen Streitkräfte seien quantitativ gut aufgestellt, die ukrainische Armee aber qualitativ. Man könne sehen, dass für die Ukrainer Geländegewinne möglich seien. "Die Ukraine gewinnt die Initiative zurück."

Für Kiesewetter ist wichtig, dass die Verluste auf der ukrainischen Seite durch den Westen schnell ersetzt werden. "Es reicht nicht aus, dass wir geliefert haben. Wir müssen jetzt in die Produktion gehen und mehr liefern." Das sieht Klingbeil genauso: "Für die Ukraine kann es nie genug Unterstützung geben", sagt er. "Was deswegen jetzt passiert ist, dass wir die Produktion hochfahren. Und da ist der Verteidigungsminister auch dran und bespricht mit der Industrie, dass gerade Munition europaweit massenhaft produziert wird." Allerdings sehe man jetzt auch die Defizite der Bundeswehr sehr deutlich.

Keine Garantie für "schönen Frieden"

Was das Ergebnis der ukrainischen Offensive angeht, rät Konfliktforscherin Nicole Deitelhoff, nicht zu viel zu erwarten. "Ich glaube nicht, dass wir einen so durchschlagenden Erfolg erleben werden, dass wir am Ende dieses Sommers sagen, die Ukraine sei völlig befreit."

Da stimmt auch Ischinger zu. Er sehe keine Ermüdungserscheinungen auf der russischen Seite, sagt er. Der Krieg werde noch sehr lange dauern, und: "Ich halte es für möglich, dass wir am Ende wieder so etwas wie eine Trennlinie haben werden wie vor Beginn des Krieges. Möglicherweise haben wir dann einen schmutzigen Waffenstillstand, der jeden Tag links und rechts verletzt wird. Wir können daran mitwirken, dass es so nicht kommt, aber wir werden es möglicherweise nicht verhindern können. Es ist nicht garantiert, dass man am Schluss einen wirklich schönen Frieden hat."

Quelle: ntv.de


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