Die Schweizer Klimaziele sind nur schwaches Mittelmaß – und kein anderes Land interessierte sich dafür. Vorbei sind die Zeiten, als die Schweiz gehört wurde, weil sie umweltpolitisch etwas zu sagen hatte. Heute bringen rund um den Globus Studentinnen ihre Universitäten, Bürger ihre Städte oder Versicherte ihre Pensionskassen dazu, ihr Geld aus der Erdöl- und Kohlewirtschaft zurückzuziehen. Aber auf dem Finanzplatz Schweiz hat man diese wachsende Bewegung noch kaum zur Kenntnis genommen. Im nationalen Wahlkampf im Herbst 2015 spielte die Umwelt keine Rolle. Vom sogenannten Fukushima-Effekt bleibt nur der Schatten einer "Energiewende". Die CO₂-Abgabe auch auf den Verkehr anzuwenden, versucht man gar nicht erst; allzu sehr fürchtet man das Geschrei der Autolobby. Und an der Urne findet ein neuer Straßentunnel eine komfortable Mehrheit, obschon das Projekt den Alpenschutzartikel verletzt, der seit 22 Jahren in der Verfassung steht.
Hat die Schweiz in den letzten zwei Jahrzehnten den großen umweltpolitischen Backlash erlebt?
Die Frage treibt auch Ueli Haefeli um. Er ist Co-Autor einer Geschichte der Schweizer Umweltpolitik, die 2017 im Auftrag des Bafu erscheinen soll. Eine klare Antwort hat der Historiker und Mitarbeiter des Beratungsbüros Interface nicht. Zwar sei es in den letzten Jahren zu keinen gesetzgeberischen Würfen mehr gekommen. Aber bezüglich Umsetzung sei die Schweiz immer noch gut, Luft- und Wasserqualität seien viel besser als vor zwanzig, dreißig Jahren, und der Fukushima-Effekt habe die Energiedebatte sehr wohl verändert. Vielleicht müsse man statt von einem Backlash eher von einer Normalisierung sprechen: "Die Schweiz war nie per se umweltbewusster als andere Länder. Die achtziger Jahre waren diesbezüglich eine Ausnahmesituation. Unterdessen haben die anderen Länder aufgeholt."
Ohne Lagerfeuer-Romantik gäbe es keine Schweizer Umweltbewegung
Der Begriff "Umwelt" und das "gesellschaftliche Leitbild Umweltschutz", wie Haefeli es nennt, sind ein knappes halbes Jahrhundert alt. Der Umwelthistoriker Joachim Radkau spricht von der "Ära der Ökologie", die weltweit in den frühen 1970er Jahren begann. In den USA gelang es 1971 einer neuartigen Koalition von Umweltbewegten und Wissenschaftlern, das Projekt eines staatlich finanzierten Überschallflugzeugs zu kippen – was dessen Promotoren völlig überrumpelte. 1972 fand in Stockholm der erste UN-Umweltgipfel statt, und der Club of Rome schreckte mit seinem Bericht Die Grenzen des Wachstums die Weltöffentlichkeit. Wie zur Illustration dieser Grenzen trieb ein Jahr darauf die Opec die Erdölpreise in bisher unbekannte Höhen. Die politisch von rechts kommende Naturschutzbewegung wandelte sich zur Umweltbewegung, die sich mit anderen sozialen Bewegungen der Zeit verband und bürgerliche Vorstellungen von Gesellschaft und Fortschritt hinterfragte. In der Schweiz kristallisierte sich die Umweltbewegung um die Atomkraft-Frage.
Parallel dazu begann die Institutionalisierung der Umweltpolitik: Die USA schafften 1971 ihre Umweltbehörde EPA, die UN 1972 ihr Umweltprogramm Unep. Das Eidgenössische Amt für Umweltschutz, das heutige Bafu, wurde 1971 gegründet, und im selben Jahr stimmte eine Rekordmehrheit von 93 Prozent aller Schweizer und – erstmals – aller Schweizerinnen für einen Umweltartikel in der Verfassung.
Zu den Pionieren gehörte damals das Aargauer Ehepaar Mauch. Die Chemikerin und Politikerin Ursula Mauch spricht von einer "Aufbruchstimmung". Auslöser sei für sie der Bericht an den Club of Rome gewesen. Sie lebte damals in Boston, wo ihr Mann Samuel Gastprofessor am Massachusetts Institute of Technology war. "Da gab es auf dem ganzen Campus einen Monat lang nur ein einziges Thema: die Grenzen des Wachstums. Wir fragten uns, weshalb wir nicht selber darauf gekommen waren."
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