Wenn man im 8. oder 7. Jahrhundert v. Chr. ein Segel am Horizont wahrnahm, stellte sich im Grunde nur eine Frage: "Oh Fremde wer seid ihr?", legt Homer dem Landbewohner in den Mund. "Woher kommt ihr auf den nassen Wegen der Gewässer? Seid ihr geschäftlich unterwegs oder fahrt ihr zufällig hin und her, so wie es Seeräuber zu tun pflegen, die herumfahren, dabei ihr Leben riskieren und Unglück über andere bringen?"
Bis zum Ende des ersten Jahrtausends v. Chr. sollten diese Sätze noch oft fallen. Pirat oder Kaufmann, das war die Frage, und oft ergab sich die richtige Antwort nur aus der Perspektive. Viele Handelsgüter wurden als Beute in den Wirtschaftskreislauf der mediterranen Welt eingespeist. Wie das geschah, zeigt die Ausstellung "Gefahr auf See – Piraten in der Antike". Der Ort, Museum und Park Kalkriese nördlich von Osnabrück, hat sich eigentlich der Präsentation des mutmaßlichen Varusschlachtfeldes verschrieben. Aber der Besucher erkennt bald, dass zwischen einem römischen Aristokraten vom Schlage eines Varus und den Freibeutern nicht nur Welten klafften, sondern oft auch sehr enge Beziehungen bestanden.
"Beute war ein Schlüsselfaktor der Ökonomie, der Beutekrieg nicht nur im Epos, sondern auch in der Realität eine übliche Erwerbsform", erklärt Museumsleiterin Heidrun Derks die Rolle der Piraterie im maritimen Fernhandel. Die Zitate aus Homers Epen machen deutlich, wie man sich das vorzustellen hat: Ein offizieller Besuch konnte umgehend in Beutemachen umschlagen. Kapitäne hatten sich auch nach den Wünschen ihrer Mannschaft zur richten. Ob Handel oder Raub, auf dem Meer war beides gefährlich. Dieses Risiko sollte entlohnt werden.
Während der Bronzezeit, also im 2. Jahrtausend v. Chr., waren wohl die Minoer Kretas und die mykenischen Griechen die ersten gewesen, die sich weit auf das Mittelmeer wagten und seine Routen erschlossen. Darüber versorgten sie die Großreiche im Nahen Osten mit Luxuswaren und strategischen Gütern wie Kupfer und Zinn für die Bronzeherstellung. Den Weg eines Kupferbarrens verfolgt die Ausstellung bis ins oberägyptische Theben. Nach dem Zusammenbruch dieses Mächtesystems, das bezeichnenderweise auch räuberischen Seevölkern zugeschrieben wurde, machten im 1. Jahrtausend randständige Spezialisten die Seefahrt zu ihrer Domäne.
Die Ersten waren die Phönizier. Auf sie folgten im Westen die Etrusker und die große Seemacht Karthago, ursprünglich eine phönizische Kolonie. Und natürlich die Griechen. Viele ihrer Stadtstaaten spezialisierten sich auf den Fernhandel, was der Piraterie aber keinen Abbruch tat. Im Gegenteil: Viele Aristokraten nahmen sich an Odysseus ein Beispiel. Der machte kein Hehl daraus, dass "einer regelmäßigen Arbeit nachzugehen ... nicht mein Ding war ... was ich dagegen liebte waren Ruderboote, Krieg und Gewalt". In diesem Sinn zog es viele junge Adelige und ihren Anhang auf See. Dort kamen sie zu Ansehen und – wenn alles gut ging – einem Vermögen.
Es war ein offenes Geheimnis, dass ganze griechische Kolonien von Piraten gegründet worden waren. "Raubüberfälle finanzierten den Trip, hielten die Mitfahrer bei Laune oder waren das Startkapital für den Neuanfang", schreibt Museumsdirektorin Dierks in einem Aufsatz für die Zeitschrift "Antike Welt".
Dabei funktionierte Piraterie nur in enger Kollaboration mit den Spitzen der Gesellschaft. Denn die wichtigsten Handelsgüter, die die Ausstellung vorführt, waren Luxusgüter mit elitärem Kundenstamm: Goldschmuck, Elfenbein, Gläser, Parfüm, Öle oder Purpur.
Die Konjunktur des Piratengewerbes verhielt sich allerdings umgekehrt proportional zu dem militärischen Potenzial, das Land- oder Seemächte in die Waagschale werfen konnten. Im 5. und 4. Jahrhundert sorgten karthagische oder athenische Flotten für eine trügerische Sicherheit auf dem Meer, denn ihre Kapitäne konnten gegenüber Schwächeren leicht in überkommene Verhaltensmuster verfallen. So wurde "Seeräuber" auch zum Schlagwort in der politischen Propaganda.
Im 3. Jahrhundert sorgten der Inselstaat Rhodos und die hellenistischen Königreiche in Ägypten und Syrien für Ordnung. Denn sie konnten ihre Macht an den Küsten zur Geltung bringen, da, wo viele Piraten ihre Schlupfwinkel hatten oder ihre Beute suchten. Wie schon Prinz Paris in Sparta gezeigt hatte: Die meisten Piratenüberfälle ereigneten sich an Land und nicht auf See.
Der Aufstieg Roms beförderte die zivile und die räuberische Variante des Handels in ungeahnter Weise. Wieder spielten die Eliten der aufstrebenden Weltmacht eine Schlüsselrolle. Sie gierten danach, ihren neuen Reichtum in Luxusgütern zur Schau zu stellen. Und sie sorgten mit ihrer Politik zugleich dafür, dass diese leicht in Piratenmanier beschafft wurden.
Wrackfunde geben Aufschluss darüber, was in Rom das große Geld brachte: Statuen aus Marmor und Bronze, Schmuck, erlesene Weine, Duftstoffe, ausgefallene technische Geräte. Auch wertvolle Stoffe wie Seide werden nicht nur auf legalem Weg an den Tiber gelangt sein. Das galt auch und besonders für Sklaven. Auf der Kykladeninsel Delos entstand ein regelrechter Großmarkt für die Ware, die von Menschenjägern beschafft wurde. Deren Aktivitäten schlugen schließlich auf die Kundschaft zurück. Selbst ein Aristokrat wie der junge Cäsar wurde von Piraten gefangen genommen.
Die Piratenplage hatte Rom auch auf andere Weise befördert. Indem es Karthago zerstört und Rhodos und das Seleukidenreich in Syrien entmachtet hatte, konnten sich auf Kreta, Zypern oder in Kilikien im südlichen Kleinasien regelrechte Seeräubergemeinwesen etablieren. Halbherzig geführte Polizeiaktionen endeten mit peinlichen Fehlschlägen.
Schließlich konnte der Senat nicht mehr die Augen vor dem Problem verschließen. Kein Geringerer als der große Redner Cicero hielt seinen Kollegen 69 v. Chr. das Problem mit drastischen Worten vor Augen: "Eure Häfen, und zwar die Häfen, durch die ihr lebt und atmet, waren in der Gewalt der Räuber." Denn die Piraten bedrohten die lebenswichtige Getreideversorgung von Rom, ein Aufstand der hungernden Einwohner drohte.
Der folgende "Seeräuberkrieg" gehört zu den großen Kapiteln der römischen Bürgerkriege. Wieder waren Aristokraten und Piraten verbunden, diesmal aber auf besonders subtile Weise. Wolfgang Blösel, Althistoriker an der Universität Duisburg-Essen, hat in seinem neuen Buch "Die römische Republik" (C. H. Beck, 2015) eine verblüffende Deutung vorgelegt.
Danach zog der bekannte Feldherr Pompeius im Hintergrund die Strippen. Nachdem Cicero sein Bedrohungsszenario ausgeführt hatte, legte ein Strohmann, der Volkstribun Gabinius, ein Gesetz vor, das einem ungenannten Kommandeur den Oberbefehl über die gigantische Streitmacht von 120.000 Mann, 500 Schiffen und 5000 Reitern sowie unbegrenzten Kredit aus dem Staatsschatz übertrug. Das Imperium sollte im gesamten Mittelmeer bis zu 75 Kilometer landeinwärts gelten und drei Jahre gültig sein. Um den Druck auf den Senat durch die Volksversammlung zu erhöhen, habe, so Blösel, Pompeius Getreide gehortet und damit Preis und Unzufriedenheit bewusst in die Höhe getrieben.
Gegen den massiven Widerstand der Senatoren konnte Gabinius sowohl seinen Antrag und schließlich auch den einzigen geeigneten Kandidaten durchbringen: Pompeius. Der brauchte ganze drei Monate, um sich seines Auftrags mit Erfolg zu entledigen. Dazu mag beigetragen haben, dass die überlebenden Freibeuter nicht in Massen hingerichtet, sondern in Kilikien angesiedelt wurden. Dass das gelang, wirft ein Licht auf das soziale Herkommen vieler Piraten der unteren Ränge. Oft hatten sie ein Handwerk gelernt oder waren Söldner gewesen. In der Seeräuberei hatten sie eine Möglichkeit gesehen, ihren prekären Verhältnissen zu entfliehen. Nun versuchten sie es in der Landwirtschaft.
Anschließend machte sich Pompeius an die umfassende Neuordnung des Orients. Sein "außerordentliches Kommando" über ein riesiges Heer und zahlreiche Provinzen wurde zum entscheidenden Hebel, um die republikanische Verfassung aus den Angeln zu heben. Nach diesem Muster sollte Cäsar Gallien erobern und sollten sich seine Erben das Imperium über das Reich teilen.
Erst der Sieger im Bürgerkrieg, Augustus, konnte von sich mit Fug und Recht behaupten, das Mittelmeer von den Piraten gesäubert zu haben. Doch auch das ging vorbei. 150 Jahre später klagte der Senator Cassius Dio: "Es gab nie eine Zeit, in der die Seeräuberei nicht ausgeübt wurde. Noch wird es sie geben, solange der Mensch sich nicht wandelt."
Quelle : welt.de
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