Fast genau sechs Jahre ist es her, dass der Fernsehmanager und in der Ukraine berühmte Schauspieler Wolodymyr Selenskyj überlegen die Präsidentschaftswahlen gewann. Welche Verantwortung er da auf sich geladen hatte, konnte er damals unmöglich ahnen. Dabei kämpfte die Ukraine 2019 schon mit einer Reihe durch Russland verursachter Probleme: die völkerrechtswidrige Annexion der Krim 2014 und den seither andauernden Krieg im Donbass. Den wollte Selenskyj beenden, bewarb sich als "Friedenspräsident". Einmal im Amt, vermied Selenskyj mögliche Provokationen Moskaus und zeigte sich kompromissbereit. Vergeblich. Sich "irgendwo in der Mitte zu einigen", wie Selenskyj es sich ursprünglich vorstellte, ging mit dem Kreml nicht.
Es mag überraschend klingen nach dem öffentlichen Eklat zwischen US-Präsident Donald Trump und Selenskyj am 28. Februar im Oval Office: Beide Männer - aus dem Fernsehen berühmte, politische Quereinsteiger - waren einander nicht unähnlich ins Amt gestartet. Umso mehr hat Selenskyj wohl gehofft, dass auch Trump irgendwann seine Linie umdreht, wenn er die wahre Kompromisslosigkeit des Kremlherrschers Putin erkennt. Viele Ukrainer teilten diese Hoffnung. In der Realität aber ist der Überlebenskampf der Ukraine in den mehr als 90 Tagen Trump-Administration nur schwieriger geworden, als er es in den drei Jahren zuvor ohnehin schon war.
Keinerlei Sicherheiten für die Ukraine
Während der Verhandlungen zwischen Moskau, Washington und Kiew sind es vor allem die Ukrainer, auf die Druck ausgeübt wird. Derweil setzt Russland seine Angriffe auf die Zivilbevölkerung weiter fort. Mindestens zwölf Menschen starben in der Nacht auf Donnerstag bei einem der bislang schwersten russischen Luftangriffe auf die Hauptstadt. Die in den Medien diskutierten "Trump-Pläne" mögen zwar auch Russland nicht gänzlich zufriedenstellen. Aus ukrainischer Perspektive aber sind sie: absurd. Putin soll für seine einseitige Aggression mit der Anerkennung der Krim als russisch und der Aufhebung der US-Sanktionen belohnt werden. Die Ukraine bekommt dagegen keinerlei Sicherheitsgarantien durch die USA, wonach so ein Abkommen das sichere Ende aller russischen Angriffe bedeutete. Wenn überhaupt, sollen sich die Europäer künftig mit dem Schutz der Ukraine vor Russland befassen.
Allein die Erwähnung einer Anerkennung der Krim als russisch ist aus Kiewer Sicht ein Riesenaffront. Denn die Ukraine zeigt sich längst zu einem bedingungslosen Waffenstillstand und somit faktisch zum Einfrieren des Konflikts entlang der Frontlinie bereit. Auch nach der ursprünglichen Okkupation 2014 bis zum russischen Vollangriff im Februar 2022 konzentrierte sich Kiew mit Blick auf die Krim ausschließlich auf diplomatische und politische Mittel zur Wiederherstellung der territorialen Integrität.
Auch in Zukunft ist eine militärische Rückeroberung der Krim ausgeschlossen: Die Ukraine muss im Falle eines Waffenstillstands künftig 1000 Kilometer bisheriger Frontlinie überwachen. Nach den Erfahrungen während des achtjährigen Donbass-Krieges wird auch diese Demarkationslinie immer wieder lokal durchbrochen werden - und sei es nur mit den massenweise vorhandenen Drohnen auf beiden Seiten.
Was soll Russland aufhalten?
Auch jetzt hat die Ukraine also de facto dem Behalt des faktischen Status Quo bereits zugestimmt. Einem Konstrukt, in dem Russlands Kontrolle über die Krim offiziell anerkannt wird, kann Kiew aber keinesfalls zustimmen. Für die Ukraine ist die Anerkennung von besetzten und teilbesetzten Gebieten als russisch, wo jeweils inszenierte Scheinreferenden stattgefunden haben, nicht grundlos eine rote Linie. Die russische Verfassung macht nach den von Putin veranlassten Änderungen keinen Unterschied mehr zwischen Moskau, der seit 2014 kontrollierten Krim und der Großstadt Saporischschja, die keine Sekunde lang unter Kontrolle der russischen Armee stand. Sie alle sind laut Verfassung "Teil" der Russischen Föderation.
Daraus folgt: Wenn die Krim anerkannt wird, hindert Russland nichts daran, im nächsten Schritt die Region Charkiw, wo seine Armee auch militärisch präsent ist, ebenfalls in die russische Verfassung reinzuschreiben und den Abzug der ukrainischen Armee aus dem ganzen Gebiet zu fordern. Dass Moskau weiterhin darauf besteht, dass die Ukrainer auch die von Russland nicht kontrollierten Teile der Regionen Cherson und Saporischschja vor einem Waffenstillstand räumen müssen, hat Kremlsprecher Dmitrij Peskow diese Woche zum wiederholten Mal angedeutet.
Klar ist ebenfalls: Die Anerkennung der Krim als russisch wäre politischer Selbstmord für Selenskyj - und jeden anderen ukrainischen Präsidenten. Zumal die Prozedur zur Abänderung der territorialen Zusammensetzung der Ukraine kompliziert und so nicht durchsetzbar ist. Dafür bräuchte es zwei Abstimmungen mit jeweiliger Zweidrittelmehrheit - ein landesweites Referendum, an dem ausnahmslos alle Regionen des Landes teilnehmen müssen, und einen Entscheid des Verfassungsgerichts. Diesen Prozess auszulösen, bedarf es 300 Stimmen im Landesparlament, der Werchowna Rada. Schon das ist völlig aussichtslos.
Kiew will die Biden-Pakete
Und doch setzen Selenskyj und seine Regierung darauf, Donald Trump in den Verhandlungen zu halten - vorerst. Denn realistischerweise geht es der Ukraine nicht mehr darum, die breite Partnerschaft mit den USA in der Zukunft zu behalten. Es gilt inzwischen als unwahrscheinlich bis unmöglich, dass Trump neuen Militärhilfen für die Ukraine zustimmt. Noch aber kommen weiterhin die unter Trumps Vorgänger Joe Biden vom Kongress bewilligten US-Hilfspakete in der Ukraine an. Kiews will dafür sorgen, dass deren Lieferung nicht ein zweites Mal durch Trump unterbrochen wird.
In der Zeit danach werden sich die USA freiwillig oder auch unfreiwillig als Unterhändler im russisch-ukrainischen Krieg erledigen. Denn die Waffenlieferungen an die Ukraine sind das einzige wirkliche Druckmittel, welches Trump hat - sowohl auf Kiew als auch auf Moskau. Zweifellos wird es danach, ohne US-Militärunterstützung, für die Ukraine schwer sein. Doch scheint aus Kiewer Sicht das Szenario, ohne US-Militärhilfen auskommen zu müssen, über kurz oder lang unvermeidlich. Umso mehr hofft die Ukraine nun auf Europa. Zumindest die riesigen emotionalen Schwankungen, die Trumps erratische Politik bei den Menschen im Land immer wieder auslöst, haben dann ein Ende. Immerhin.
Quelle: ntv.de
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