750 Zeichen, die Runologen Rätsel aufgeben
Damals war der 3,82 hohe Stein wohl schon seit etwa 500 Jahren in die Mauer der Zehnt-Scheune an der Kirche des Orts Rök am mittelschwedischen Vätternsee eingemauert, also dort, wo früher der Zehnte, die Abgaben der Bauern, gesammelt wurden. Seine Inschrift, die mit 750 Zeichen die längste aller 6000 bekannten Runensteine ist, wurde wahrscheinlich in der ersten Hälfte des neunten Jahrhunderts geritzt.
Die wissenschaftliche Erforschung des Rök-Steins beginnt aber erst mit seiner Befreiung aus der Mauer im Jahre 1862. Bald fand man heraus, dass der Stein in zwei verschiedenen Runen-Alphabeten beschriftet war – als wollte der Schreiber seine Fähigkeiten ausstellen. Möglicherweise handelt es sich dabei aber auch um ein magisches Ritual. Als gesichert gilt, dass die Inschrift absichtlich verrätselt wurde. Dennoch war deren Übersetzung weitgehend vollendet, als der Norweger Sophus Bugge 1910 seine entsprechende Abhandlung herausgab.
Seitdem rätseln Wissenschaftler und interessierte Laien, ob die mythologisch anspielungsreiche, teilweise verschlüsselte und in Geheimrunen verfasste Inschrift Bezüge zu realen historischen Geschehen hat. Sicher ist nur der Autor. Es war ein gewisser Varin. Die wie eine heutige Überschrift in ungewöhnlich großen Runen verfasste Einleitungsformel lautet: "Zum Gedenken an Vämod stehen diese Runen. Aber Varin schrieb sie, der Vater, zum Gedenken an den todgeweihten Sohn."
Wer waren die Hreidgoten?
Gestritten wird beispielsweise darüber, wer die Hreidgoten waren, als deren Nachfahr Varin sich bezeichnet: Gotische Krieger aus der Völkerwanderungszeit? Die Heruler, ein germanischer Stamm, der aus dem Donaugebiet nach Schweden floh? Oder einfach nur berittene Krieger?
Der Linguist Per Holmberg von der Universität Göteborg bietet in der Fachzeitschrift "Futhark. International Journal for Runic Studies" eine andere Theorie. Seiner Meinung nach handelt sich bei den Versuchen, die sagenhaften Anspielungen des Textes bis in die Völkerwanderungszeit und zu Theoderich zurückzuverfolgen, um zeitbedingte Irrwege: Das frühe 20. Jahrhundert sei eine Zeit des anschwellenden Nationalismus in seinem Land gewesen, sagte Holmberg der "Washington Post", das damalige Klima habe "romantische Fantasien" über den Ursprung Schwedens begünstigt.
Die Zwölf ist jetzt tatsächlich die Zwölf
Holmbergs Deutung beruht auf einer neuen Zählweise der Inschriftenbestandteile. Statt die jeweiligen Seiten des Runensteins als "Vorderseite" und "Rückseite" wie in einem Buch zu entziffern, liest er sie so wie jemand, der rund um den Felsen herumgeht. Dadurch löste er ein numerologisches Rätsel, über das sich Forscher lange den Kopf zerbrochen hatten: Einer der dunklen Sätze beginnt mit "Ich sage als Zweites …", dann scheint Varin die Zahlen drei bis zwölf zu überspringen. Wenn man es so wie Holmberg liest, kommen nach "Ich sage als Zweites" exakt neun Sätze, sodass "Ich sage als Zwölftes" tatsächlich der zwölfte Teil der Liste wäre. Die Wikinger liebten solche Zahlen- und Namensspielchen, sie sind typisch für Runeninschriften.
Laut Holmberg handelt es sich also schlicht um ordentlich durchnummerierte Rätsel, in denen Varin etwa mit der Doppeldeutigkeit des Wortes Ingold spielt. Was Forscher bisher als den Namen eines mythischen Helden lasen, könnte auch mit "Sonnenuntergang" übersetzt werden.
Die Frage, warum sich Varin die Mühe gemacht hat, den fast vier Meter hohen Felsbrocken in mühevoller Arbeit mit Rätseln zu gravieren, beantwortete Holmberg in der "Washington Post": Es handele sich um eine "Ewigkeitsmaschine"; indem Varin den Betrachter dazu bringe, um den Stein herumzugehen und die Rätsel zu lesen, zwinge er ihn, seines toten Sohnes zu gedenken. Diese neueste Theorie über den 1200 Jahre alten Runenstein wäre dann zugleich ein Beweis dafür, dass Varins Plan aufgegangen ist.
Quelle : welt.de
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