Evelin Schütze hat Fotos gemacht: "Jeden Morgen ist unsere Straße weiß von Kondomen und Feuchttüchern." Fotos auch vom Spielplatz vis-à-vis: "Kinder sitzen im Sandkasten und gucken zu, wie so eine im Gebüsch einen Mann bedient, und danach schmeißt die das benutzte Kondom in die Buddelkiste." Die Fotos hat sie der Bürgermeisterin geschickt. "Vergebens."
Puffmuttis gemütliche Stube, das ist eine nostalgische Illusion. Längst ist hier das Geschäft in der Hand meist osteuropäischer Banden. "Die kippen die Mädchen busweise hier ab und führen ihre Revierkämpfe", erzählt ein Geschäftsmann. Ein anderer berichtet, wie Rumäninnen sich vor seinem Schaufenster verkaufen und ihre Notdurft auf dem Kundenparkplatz verrichteten. "Ich könnte jeden Tag drei Anzeigen erstatten, aber ich lasse es – es hat keinen Sinn." Anwohner und Gewerbetreibende wünschen sich einen Sperrbezirk oder wenigstens Sperrstunden – vergebens auch diese Hoffnung. Die Berliner Politik hält sich viel auf ihre Liberalität in Sexdingen zugute.
"Arm, aber sexy", wie es Klaus Wowereit so werbewirksam sagte. Armselig und abgefuckt träfe es besser im Kiez um die Kurfürstenstraße. Zuhälter in Adidas-Hosen, breitbeinig und glatzköpfig aus Autos mit rumänischen oder bulgarischen Kennzeichen steigend, um ihre Mädchen zu kontrollieren und ihnen, wenn nötig, eine zu klatschen. Sex-Betrieb fast rund um die Uhr. Tabledancende Mädchen am helllichten Tag auf der Straße, ohne Drogen geht das kaum. Ein paar Straßen weiter das alles andersherum: Junge Stricher aus Osteuropa besetzen den Kinderspielplatz an der Fuggerstraße. Hier wie dort Eltern, die ihre Schritte beschleunigen und ihre Kinder rasch weiterzerren.
Rund 2000 Prostituierte sind in Berlin tätig, schätzt die Polizei. Aber die schiere Zahl sagt nicht alles. In Berlin geht, was sonst nirgendwo geht in Deutschland. Ganze Stadtviertel als allnächtliche, alltägliche Freiluftpuffs. Es regiert das große Egal. Andere Städte halten das Gewerbe durch Sperrbezirke wenigstens von Kindern und Wohngebieten fern. Nicht so die deutsche Hauptstadt.
Ihr Innensenator Frank Henkel von der CDU regte 2013 an, die Errichtung eines Sperrbezirks an der Kurfürstenstraße zu prüfen – vergebens. Straßenprostitution sei für Anwohner, Geschäftsleute "und vor allem für Kinder und Jugendliche überaus belastend", sagt ein Sprecher der Berliner Innenverwaltung. Henkel sei davon überzeugt, dass der Erlass einer Sperrbezirksverordnung die Lage nachhaltig verbessern würde. Aber ein Senatsbeschluss kam nie zustande. Zwei SPD-Senatorinnen lehnten ihn im Juli 2014 ab.
Berlin will keine Sperrbezirke
Auch die für den Straßenstrich zuständige Bezirksbürgermeisterin Angelika Schöttler, ebenfalls SPD, sagt: "Wir haben die klare Auffassung, dass wir keinen Sperrbezirk wollen." Und warum nicht? "Weil das nur dazu führen würde, dass der Strich ein paar Straßen weiter zieht." Man tue viel, sagt die Bürgermeisterin. "Wir sprechen die Frauen an, aber es kommen immer neue. Wir müssen ihnen immer neu erklären, was nicht geht: Nicht so laut sein. Nicht Männer ansprechen, die mit kleinen Kindern unterwegs sind."
Ob "die Frauen" sich das zu Herzen nehmen? Anwohner berichten eher das Gegenteil. Zwei Schulen und mehrere Kindergärten liegen hier. Es passiert, dass Kinder an einem Baum vorbeigehen, und hinter dem Baum wird gerade getan, was Prostituierte tun. Zwei Mädchen der französischen Grundschule geben sich, wie sich Jugendliche halt geben: abgeklärt, cool. Ja, das alles komme ihnen sehr nahe, "mais c`est l`habitude ici. On ne regarde plus." Ist halt so üblich hier, man schaut drüber weg.
Alteingesessene Berliner wie Evelin Schütze können so viel Coolness nicht aufbringen. Sie sehen, wie ihr Kiez vor die Hunde geht. "Es kann doch nicht sein, dass tausend Mieter sich zehn rumänischen Mädchen beugen müssen. Wir alle sind seelisch krank vor Wut." Prostitution gehört heute zum Image Berlins. Sie ist Teil der Attraktion der Hauptstadt – und ihres Selbstbildes. "Arm, aber sexy", das ist nicht bloß lustig-locker gemeint, sondern durchaus explizit. Das Großbordell "Artemis" warb jüngst auf städtischen Bussen für seine Dienstleistung. Prostitutionspropaganda, durch ganz Berlin gefahren von der städtischen Nahverkehrsgesellschaft.
"Artemis" läuft nach Razzia weiter
Ausgerechnet in diesem Edelbordell an der Stadtautobahn erschienen Mitte April 900 Beamte zur Razzia. Die Vorwürfe waren heftig. Auf ihrer Pressekonferenz verglich die Staatsanwaltschaft die Frauen im "Artemis" unter anderem mit "Sklaven auf Baumwollfeldern", die keine eigenen Entscheidungen treffen dürften. Von Menschenhandel war die Rede. Das Bordell hat inzwischen ein Abmahnverfahren gegen die Staatsanwaltschaft wegen Vorverurteilung eingereicht, der Generalstaatsanwalt prüft den Vorgang.
Ein Besuch im "Artemis" vermag den Vorwurf der Sklaverei nicht so recht erhärten. Sklaven sehen eigentlich anders aus als die Frauen, die man dort trifft. Sie sind auch nicht frech zu ihren Aufsehern. "Geh mal wieder ins Fitness-Studio", scherzt Chanel und gibt Florian Gram einen Klaps auf den Hintern. Gram ist Geschäftsführer des "Artemis" und die 38-jährige Chanel mit den hellblonden Locken im knappen Minikleid eine Prostituierte. Gram grinst. Zu viert sitzen die Damen in der Suite des Großbordells unweit des Berliner Messegeländes. Nach den Vorwürfen der Staatsanwaltschaft befragt, schütteln sie fassungslos die Köpfe.
"Das ist doch eine Galerie-Veranstaltung der Regierung für den kommenden Wahlkampf", sagt die 29-jährige Türkin Sila. "Wir werden hier nicht zur Arbeit gezwungen, wir kommen und gehen, wann wir wollen." Selbstverständlich kündige man sein Erscheinen an, damit die Stammfreier wüssten, ob ihr Liebling denn auch da sei. "Aber mir macht hier keiner Vorschriften." Die Frau wirkt nicht, als rede sie unter Zwang.
Quelle : welt.de
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