Kriterien für Magersucht: Die Waage und die Seele

  06 Juni 2016    Gelesen: 1178
Kriterien für Magersucht: Die Waage und die Seele
Alexandra hungerte sich krank. Weil ihr Gewicht aber noch im Normalbereich lag, stuften Ärzte sie nicht als magersüchtig ein. Das wurde dem Mädchen fast zum Verhängnis.
"Ich hatte Flüssigkeitsansammlungen im Herzen, stark beschädigte Nieren und meine Periode blieb aus", erzählt Alexandra. Die heute 21-Jährige litt noch vor wenigen Jahren an Magersucht.

Allerdings sah man ihr die Krankheit auf den ersten Blick nicht an: Alexandra entsprach mit 55 Kilogramm bei einer Größe von 1,68 Metern nicht dem gängigen Bild einer magersüchtigen jungen Frau. Die tückische Essstörung hatte rein äußerlich keine der typischen Spuren hinterlassen - obwohl Alexandra ihr Gewicht innerhalb weniger Monate mehr als halbiert und sich von Über- auf Normalgewicht gehungert hatte.
"Magersucht ist eine der wenigen psychischen Krankheiten, bei der wir die Patienten relativ leicht vermessen können und schon ein einzelner Wert ein wichtiges Indiz ist, ob eine Erkrankung vorliegt", erklärt Stephan Zipfel, Ärztlicher Direktor der Psychosomatischen Medizin am Universitätsklinikum Tübingen. "Deswegen hat das Gewicht zunächst eine wichtige Bedeutung."

Dennoch sei die Zahl auf der Waage nur ein Indikator von vielen. Es gebe weitere zentrale diagnostische Kriterien, wie etwa die Frage, ob der Patient eine ausgeprägte Angst vor einer Gewichtszunahme hat oder die Wahrnehmung des eigenen Körpers gestört sei. "Das Zusammenspiel der Kriterien ist entscheidend", so Zipfel, "keines davon sollte allein betrachtet werden."

Die alleinige Betrachtung ihres Gewichts wurde für Alexandra beinah zum Verhängnis: Auf Wunsch ihrer Eltern, die die Extremdiät besorgt beobachteten, vereinbarte sie einen Termin in einer ambulanten Praxis für Psychotherapie. Doch die Therapeutin stempelte ihre Magersucht als Spinnerei ab, als rebellische Phase. Schließlich sei ihr Gewicht im Normbereich. "Das war für mich ein Schlag ins Gesicht", sagt Alexandra. Sie fühlte sich nicht ernst genommen und wurde dadurch nur noch mehr angespornt. Sie aß fast gar nichts mehr, das Hungern wurde zur Obsession und bestimmte ihren Alltag.

Normalgewichtig, aber einer der härtesten Fälle

Erst ein zweiter Arzt stellte schließlich nach zahlreichen körperlichen Untersuchungen den Schweregrad ihrer Erkrankung fest und verlegte Alexandra in eine Spezialklinik für Essstörungen. Dort verbrachte sie neun Monate. Zwar war sie in all der Zeit nie untergewichtig, gehörte nach eigener Einschätzung aber zu den schwierigsten Fällen. "Ich wollte immer die Magersüchtigste und etwas Besonderes sein", so Alexandra. Sie war stolz auf ihre Selbstdisziplin. "Ich wollte allen beweisen, dass ich mindestens genauso krank bin wie die dünneren Patientinnen."

Auch nach ihrer Entlassung hatte die Magersucht Alexandra fest im Griff - und es dauerte nicht lange, bis sie wieder anfing zu hungern und schließlich ihr Ziel erreichte: Untergewicht. Mit 42 Kilogramm wurde sie erneut in eine Klinik eingewiesen - mit massiven körperlichen Schäden. Über eine Magensonde wurde sie künstlich ernährt, die Ärzte erwogen, sie in ein künstliches Koma zu versetzen.

Am Ende half ihr eine Unterbringung in einer Wohngemeinschaft für Menschen mit Essstörungen, die ihr die Selbsthilfeorganisation Anad ("Anorexia Nervosa and Associated Disorders") vermittelte. Heute fühlt sie sich endlich stabil.

Die starren Diagnosekriterien für Magersucht sollen in Zukunft gelockert werden: Das Internationale Klassifikationssystem der Krankheiten (ICD) wird aktuell überarbeitet. Für das ICD-11, deren Einführung für 2018 geplant ist, ist auch eine Hochstufung des magersüchtigen Gewichts vorgesehen - von BMI 17.5 auf BMI 18.5. "Aus klinischer Sicht ist dies ein überaus sinnvoller Schritt", erklärt Stephan Zipfel, "da es eine enorme Bandbreite an Erkrankungsgraden gibt."

"Wir wundern uns immer wieder, wie lange zugeschaut wird"

Die Übergänge von einem auffälligen oder kurzfristig gestörten Essverhalten zu einer tatsächlichen Magersucht seien fließend, so Zipfel: "Es gibt eine große Dunkelziffer von Personen, die eine anorektische Phase von beispielsweise mehreren Monaten durchleben." Viele von ihnen können sich daraus aus eigener Kraft befreien, anderen jedoch gelingt dieser Schritt nicht und sie geraten in den Sog der Magersucht.

"Deshalb ist es ist wichtig, dass Freunde, Familie oder Lehrer ein gestörtes Essverhalten frühzeitig wahrnehmen und darauf mit ersten Hilfemaßnahmen wie dem Angebot einer ambulanten Therapie reagieren", sagt Stephan Zipfel. So könne die Notwendigkeit einer klinischen Behandlung möglicherweise verhindert werden. "Wir wundern uns immer wieder, wie lange zu- oder weggeschaut wurde." Je länger die Krankheit unbehandelt bleibe, desto schlechter sei letztendlich die Chance auf Genesung.

Im Sinne der Prävention wünscht sich auch Alexandra, dass sich das Bild der Magersucht in der Gesellschaft wandelt und die psychischen Zwänge und Kämpfe mehr in den Vordergrund der allgemeinen Kenntnis rücken - und nicht nur das extrem dünne Körperbild: "Die Krankheit ist immer das Resultat einer gekränkten Seele und sollte nicht ausschließlich davon abhängig gemacht werden, wie viel jemand wiegt."

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