Keiichi Sato ist wieder stolz darauf, aus Minamisoma zu kommen. An die Katastrophentage von vor fünf Jahren erinnert sich der Feuerwehrmann noch genau, er war ja im Dienst: „Alles stand unter Wasser. Ich sah Autos und Häuser an mir vorbeischwimmen, die Telefonnetze waren zusammengebrochen. Dann hörten wie noch von der Kernschmelze. Die Hölle kam erst noch auf uns zu.“ In den Wochen danach verwandelte sich der Name seiner Heimatregion Fukushima, in der die Stadt Minamisoma liegt, zu einem Synonym für Tragödie, Angst und Gefahr. Die japanischen Schriftzeichen Fukushimas stehen eigentlich für „glückliche Insel“. „Das trifft auf uns leider nicht mehr zu“, sagt Keiichi Sato.
Im Aufenthaltsraum der Feuerwache dieser 60.000-Einwohner-Stadt blättert er durch die Zeitung, jeden Tag werden aktuelle Strahlungswerte abgedruckt. Nach den Evakuierungen sind die meisten Gebiete von Minamisoma zwar heute wieder bewohnt. Aber erhöht sind die Werte hier trotzdem, der Ruf des Strahlendorfs ist geblieben. „Deshalb ist es richtig“, sagt Keiichi Sato, „dass wir diesen Neuanfang beschlossen haben.“ Auch darüber schreibt die Lokalzeitung täglich: Minamisoma ist Japans erste Stadt, die nach der Katastrophe von 2011 offiziell beschlossen hat, ohne Atomenergie zu leben. Egal, was die Stromversorger, die in Japan gleichzeitig Atomkraftwerksbetreiber sind, ihnen anbieten. „Wir müssen neue Wege des Zusammenlebens und der Versorgung finden“, verkündete Bürgermeister Katsunobu Sakurai vor einem Jahr. Die Ansage war so medienwirksam, dass es kein Zurück gibt.
Minamisoma liegt 25 Kilometer nördlich der Atomkraftwerksruine Fukushima-Daiichi. Früher hing ein Großteil der Arbeitsplätze von der Nuklearenergie ab, ein anderer von der heute vielerorts in Brachland verwandelten Landwirtschaft. Sollten andere Städte dem Beispiel Minamisomas folgen, wird der Küstenort auch zur Blaupause, wie man eine lokale Ökonomie völlig umkrempelt – vom Arbeitsmarkt bis zur Energieversorgung. Erste Veränderungen sind schon zu sehen. Auf diversen Häusern der Stadt prangen heute Solarpanels, pro 30 Haushalte wurden Schaltzentralen gebaut, die nicht nur zur Zusammenführung und Verteilung der eingefangenen Solarenergie dienen, sondern auch als Portal für das Teilen diverser Güter.
Energieverbrauch reduzieren. „Wir müssen auf allen Wegen unseren Energieverbrauch reduzieren“, wird der Bürgermeister nicht müde, über alle Kanäle zu verkünden. Durch ein verstärktes Verbraucherbewusstsein und das Teilen von Energieschluckern wie Autos kann das teilweise gelingen. Auch durch moderne Häuser, die an den Stellen der Zerstörung reihenweise gebaut wurden. Minamisomas Entwicklungen zeigen in die erwünschte Richtung, auch wenn der Übergang zur atomfreien Versorgung noch gut vier Jahre dauern wird. Wirtschaftlich will die Stadt, die noch immer nicht annähernd ihr Produktionsniveau von vor fünf Jahren erreicht hat, auf den Handel und eine Wiederbelebung der Landwirtschaft setzen. Keiichi Sato, der in seinem Garten seit Kurzem wieder Gemüse anbaut, findet das richtig. „Wenn ganz Japan sieht, dass das alles ausgerechnet hier möglich ist, dann geht es überall.“ Eine Stadt wird vom Geknechteten zum Pionier.
Vor fünf Jahren bebte hier zuerst die Erde mit einer Stärke von 9,0, dann überschwemmte ein Tsunami mit bis zu 20 Meter hohen Wellen die Nordostküste. Als wäre das nicht genug gewesen, havarierte auch noch das durchnässte Atomkraftwerk Fukushima Daiichi, wo es in drei von sechs Reaktoren zu Kernschmelzen kam. Die Bilanz dieser dreifachen Katastrophe ist verheerend. 20.000 Menschen starben landesweit durch Erdbeben und Tsunami, 300.000 Menschen mussten evakuiert werden. Noch heute leben 100.000 Menschen fern ihrer Heimat, ein Zehntel von ihnen kommt aus Minamisoma.
In einigen Ländern sorgte der GAU für einen politischen Kurswechsel. Deutschland schaltete Tage nach den Kernschmelzen von Fukushima die ältesten Reaktoren ab, im Juni 2011 wurde der schrittweise Ausstieg aus der Atomenergie beschlossen. Die Schweiz entschied sich für ein Ende der Kernspaltungen. In Italien sorgte eine Volksabstimmung dafür, dass eine geplante Rückkehr zur Atomkraft nicht durchgeführt wurde. Auch die japanische Regierung kündigte 2011 einen Ausstieg an. Doch wurde der Schritt im politischen Chaos der Katastrophe schnell wieder zurückgenommen.
Durch Premierminister Shinzo Abe, der Ende 2012 ins Amt gewählt wurde, fuhren nach drei Jahren Stilllegung im Sommer 2015 die ersten zwei Reaktoren wieder hoch. Anfang dieses Jahres folgte der dritte. Obwohl sich die Mehrheit der Japaner gegen die Atomkraft ausgesprochen hat, ist Japan heute weit von einem Atomausstieg entfernt. „Dabei brauchen wir die Atomkraft gar nicht“, sagt Hironao Matsubara. Der Mann im dunkelblauen Anzug, Mitarbeiter des Instituts für Nachhaltige Energiepolitik (ISEP), sitzt in einem Büro in Yokohama, einer Hafenmetropole südlich von Fukushima.
Premierminister Abe argumentiert mit Versorgungssicherheit und dem billigeren Strom. „Beide Argumente zählen nicht“, hält Matsubara dagegen. „Wer den unwahrscheinlichen, aber unermesslich teuren Fall eines Nukleardesasters in die Gleichung nimmt, wird nicht sagen können, dass Atomstrom billig ist.“
Und die Versorgungssicherheit? Derzeit importiert Japan, wo es weder Öl noch viel Gas oder Kohlevorkommen gibt, mehr als 80 Prozent seines Energieverbrauchs aus dem Mittleren Osten. Eine extrem hohe Importabhängigkeit, obendrein aus einer politisch instabilen Region. Matsubara ist auch davon nicht beeindruckt. Sein Institut hat ausgerechnet, dass Japan, wenn es heute die Weichen stellt, bis 2050 völlig ohne Energieimporte auskommen könnte. „Und zwar auch ohne Atomstrom, ausschließlich mit Erneuerbaren“, fügt Matsubara hinzu. Ergebnisse, die den mit der Regierung gut vernetzten Stromversorgern nicht gefallen. Zumal andere Institute zu ähnlichen Ergebnissen kommen. Dazu gehören WWF Japan, Greenpeace Japan, der Klimaschutzverein Kiko Network, aber auch die US-amerikanische Stanford University.
Erdwärme für die Stadt. Man muss Japan nur kurz besuchen, um zu sehen, dass das Land über reichlich erneuerbare Energiequellen verfügt. Die große Insel Kyushu im Südwesten des Landes gehört zu den geothermal aktivsten Regionen der Welt. Dort werden ganze Städte durch Erdwärme versorgt. Fast überall im Land sind die Sommer heiß, und gerade an der Küste ist es stets windig, was sich sowohl für Wind- als auch Wasserkraft eignet. Doch als die Erneuerbaren weltweit spätestens ab den 1990er-Jahren modern wurden, verschliefen Tokios Bürokraten diesen Trend. Heute liegt Japans regenerativer Anteil im Energiemix bei rund zehn Prozent, nur einen Tick höher als 1990, und deutlich unter dem weltweiten Durchschnitt.
Minamisoma geht seinen eigenen Weg. Vor der Küste wurde vor Kurzem der größte Windpark der Welt gebaut, der die Gegend nun mit Strom versorgen soll. Seit drei Jahren läuft auf dem Boden, auf dem früher Bauernhöfe standen, zudem eine Anlage mit mehr als 2000 Solarpanels. An einem Vormittag führt Gründer Eiju Hangai, der früher für Tepco gearbeitet hat, den Betreiber des Kraftwerks Fukushima, Besucher durch den Park. „Sehr geehrte Gäste“, sagt der Mann im schwarzen Anzug, aber ohne Krawatte, voller Euphorie, „ich glaube fest daran, dass Fukushima schon bald für einen nachhaltigen Lebensstil stehen kann.“ Seine Solarkraftanlage kann immerhin 170 Haushalte versorgen, treibt überdies ein Gemüsegewächshaus an, dessen Erzeugnisse schon Strahlungstests passiert haben und in den Verkauf gegangen sind.
Ist das die Zukunft für Minamisoma? Eiju Hangai ist optimistisch, auch wenn es bisher nur eine Handvoll solcher neuer grüner Betriebe gibt. „Wir brauchen mehr Unternehmer, die hier etwas Neues aufbauen wollen“, sagt er. Immerhin gibt es gerade hier für Neugründungen staatliche Förderung. Nur könnte Minamisoma auch das Personal für solche Projekte fehlen. Seit die Bevölkerung nach der Katastrophe vorübergehend auf 10.000 Einwohner geschrumpft ist, sind nur die älteren Bewohner zurückgekehrt.
Vielleicht hat Minamisoma aber auch hier eine Antwort. Die Stadtverwaltung hat auch beschlossen, eine „Stadt des Alterns“ zu werden. Ältere Menschen sollen angelockt werden, einerseits durch intelligente und komfortable Wohnungen, andererseits durch die Aussicht der Subsistenzwirtschaft, die energiesparend ist. Damit wäre aus der demografischen Not eine Tugend gemacht. Keiichi Sato, der Feuerwehrmann, geht bald in Rente. Wenn es so weit ist, sagt er und schmeißt die Zeitung in die Ecke, „will ich mehr Solarpanels kaufen und damit mein eigenes Haus versorgen“. Dann werde er unter alten Bekannten Werbung für Minamisoma machen. „Seit uns so viele Einwohner verlassen habe“, sagt er halb scherzend und halb traurig, „haben wir ja eine Menge Platz hier.“
Quelle: diepresse.com
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