Lehrer stehen mittlerweile am Rande der Verzweiflung

  13 Juni 2016    Gelesen: 1243
Lehrer stehen mittlerweile am Rande der Verzweiflung
Die Grundschule soll Flüchtlinge integrieren, Zugewanderte fördern und Behinderte inkludieren. Zwischen diesen Aufgaben werden Lehrer zerrieben. Manche Schule weiß sich auf ganz eigene Art zu helfen.
Wie zerlegt man sich in 29 Teile? Vera Hengsbach (Name geändert) fragt sich das fast täglich – wenn sie das Klassenzimmer betritt und ihre 29 Schüler anschaut. Dann fällt ihr Blick zum Beispiel auf den Flüchtlingsjungen Saleh, der während des Unterrichts schon mal aufspringt, in schrillem Ton schreit, seinen Tisch umschmeißt und aus der Klasse rennt. Angeblich sah er, wie sein Vater erschossen wurde.

Oder der kleine, freundliche Ahmed, der zwar deutscher Staatsbürger ist, aber keinen einzigen deutschen Satz fehlerfrei spricht – genau wie seine ebenso freundliche Mutter. Oder Ralf, eines der wenigen Kinder ohne Zuwanderungsgeschichte, dessen Deutsch aber trotzdem so miserabel ist, dass er den Förderkurs "Deutsch als Zweitsprache" besuchen muss.

Zu jedem ihrer Schüler könnte die 41-jährige Lehrerin eine Problemgeschichte erzählen, zu deren Lösung jedes Kind vor allem eines brauchte: viel individuelle Zuwendung. Und genau das ist "objektiv unmöglich", sagt Hengsbach. Dafür müsste sie sich in besagte 29 Teile zerlegen. Wenn die Lehrerin dann nach ihren vier Stunden Unterricht pro Tag aus der Klasse schleicht, möchte sie "am liebsten auf allen vieren die Treppe herunterkriechen", erzählt sie. So groß ist der Frust. So ausgeprägt ihr Bewusstsein, den Kindern nicht gerecht zu werden. Und damit steht sie nicht allein.

Von der Politik im Regen stehen gelassen

Natürlich, ihre Grundschule liegt im Viertel einer Stadt in NRW, das für seine vielen Migranten, Bildungsfernen und Hartz-IV-Empfänger bekannt ist. Aber längst spiegelt sich in diesen Brennpunktschulen, was sich in verringerter Dosis in vielen Schulen im ganzen Land beobachten lässt. Der "Zwang zum Vierteilen ist für Grundschullehrer in NRW längst zum Regelfall geworden", meint auch Udo Beckmann, der Vorsitzende vom Verband Bildung und Erziehung (VBE).

Er warnt, "die meisten Grundschullehrer" in NRW würden "zerrieben zwischen der Integration Zugewanderter, der Inklusion Behinderter und dem Förderanspruch auch aller anderen Schülerinnen und Schüler". Und was noch schlimmer sei: Schulministerin Sylvia Löhrmann (Grüne) lasse sie "im Regen stehen".

Dabei beteuerten die Bildungsexperten von Regierung und Opposition erst am Donnerstag wieder im Landtag, in der Grundschule werde über das "Gelingen unserer Zukunft", über die Chancen aller jungen Menschen im Land entschieden. Die Parteien debattierten, wie man die verheerende Lage der Grundschule verbessern könne. Und kamen zumindest in einem überein: Die Grundschule sei die "Basis" der Bildungsrepublik.

Wenn die Zuversicht verloren geht

An die vorderste Front, wenn man so will, in die Kampfzone dieser Bildungsrepublik zog es Vera Hengsbach schon früh. Die Mutter einer Tochter ist eine pädagogische Idealistin. Aus freien Stücken wählte sie 2007 eine Brennpunktschule als Arbeitsplatz. Sie träumte davon, für die Aufstiegschancen derer zu streiten, die "von Haus aus schlechtere Karten haben". Und davon gibt es in ihrer ersten Klasse reichlich.

Das war in all den Jahren zwar selten anders. Nun aber, nach insgesamt elf Jahren im Schuldienst, ist ihr erstmals die Zuversicht abhanden gekommen. Und das liegt nicht nur an den Flüchtlingskindern aus Afghanistan und dem Irak in ihrer ersten Klasse. Die Jungen beherrschten bei ihrer Einschulung nur wenige Sätze Deutsch.

Im Laufe des Schuljahrs hat sich daran so wenig geändert, dass "die Jungs eigentlich alle sitzen bleiben müssten", erzählt Hengsbach. Sie versuchte, mit den Eltern zu sprechen, ob die ihren Kindern helfen könnten. Nach der Schule passte sie die Mütter ab, die ihre Söhne abholten. Die waren zwar allesamt sehr nett und lächelten unablässig, ihr Deutsch aber erschöpfte sich in "Guttn Takk" und "Tschuss".

Flüchtlingskinder müssen in normale Klassen

Hengsbach besuchte einen der Jungen in seiner Flüchtlingsunterkunft. In dem Wohncontainer mit den vielen Dutzend Familien, die auf engstem Raum zusammengepfercht leben, ging ihr auf, dass die Bedingungen für schulischen Erfolg ungünstiger kaum sein könnten. Mit einer Wäscheleine hatte die vierköpfige Familie des kleinen Rateb ein Eckchen des Containers für sich abgesperrt.

Auf wenigen Quadratmetern leben Eltern und Kinder dort ohne Trennwand, in fast pausenlosem Lärm. Selbst mit der Nachtruhe sei es nicht weit her. Immer schreie oder quengele dort jemand, erzählte ihr der Securitymann. Und so kommen Rateb und die anderen Flüchtlingsjungen morgens mit tiefen Augenringen in die Schule. Und schlafen schon mal ein.

Wie vom Land vorgesehen, wurde auch an Hengsbachs Schule für Flüchtlingskinder eine Seiteneinsteigerklasse eingerichtet. Aber leider nur zwei Stunden am Tag, für weitere Stunden fehlt das Personal. Und so passierte etwas, was in der Theorie des Schulministeriums überhaupt nicht vorgesehen ist: Die Flüchtlingskinder müssen täglich nach zwei Stunden Flüchtlingsklasse in den normalen Unterricht der ersten Klasse wechseln, was laut VBE auch an vielen anderen Grundschulen im Land geschieht. Doch dort, in den Regelklassen, stellen sie eine gewaltige Belastung dar. Kein Wort können sie lesen, nur wenige Sätze Deutsch verstehen sie. Und für allenfalls ein paar Minuten reicht ihre Konzentrationsfähigkeit aus.

Quelle : welt.de

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