Das handverlesene Publikum jubelte dem "Führer" frenetisch zu. Doch vermutlich hätten die weitaus meisten Deutschen dieser Argumentation Hitlers zu dieser Zeit zugestimmt. Joseph Goebbels, Hitlers treuester Paladin, notierte in sein Tagebuch: "Nachmittags Führerrede im Sportpalast. Ein beispielloser Erfolg. Die Halle überfüllt und eine Bombenstimmung."
Wenige Monate nach Hitlers Auftritt im Sportpalast kam der Spielfilm "Ohm Krüger" in Deutschlands Kinos. "Der Höhepunkt des Films", schreibt der in London lehrende deutsche Historiker Nikolaus Wachsmann in seinem neuen Buch "KL", spielte "an einem ungewöhnlichen Ort – einem Konzentrationslager. Die ausgehungerten und von Krankheiten geplagten Insassen erwartete kein Happy End. Sie alle sind die Opfer eines mörderischen Regimes: Ein tapferer Gefangener wird gehenkt, seine Frau erschossen, andere von den Wachen abgeschlachtet."
Die kurze Passage in Hitlers ausufernder Grundsatzrede dürfte zu den bis heute in rechtsradikalen und neonazistischen Kreisen am häufigsten zitierten Aussagen zählen. Auch wirkt der Propagandafilm, der heute als "Vorbehaltsfilm" nur in geschlossenen Bildungsveranstaltungen mit historischer Begleitung gezeigt werden darf, fort. Denn in beiden steckt ein Körnchen Wahrheit – aber eben nur ein Körnchen.
Unbestritten gab es unter britischer Verantwortung "concentration camps". War also die Kritik angloamerikanischer Zeitungen und Politiker an den deutschen Konzentrationslagern bestenfalls heuchlerisch? Vor 75 Jahren konnte man kaum anders, als das zu glauben. Heute müsste man das nicht mehr, doch reizvoll scheint es immer noch. Doch wie so oft hilft ein Vergleich. Denn er fördert neben Ähnlichkeiten auch gravierende Unterschiede zwischen "concentration camps" und Konzentrationslagern zutage.
Emily Hobhouse deckte die Missstände in den Lagern auf
Der Begriff ist gar keine britische Erfindung. Lager, in denen Staaten Menschen einpferchen, die ihnen hinderlich erscheinen, gab es schon im frühen 19. Jahrhundert – unter anderem in den USA, wo Indianer vor ihrer Deportation zusammengefasst wurden. Das Wort selbst dürfte aus dem Spanischen stammen; der General Valeriano Weyler y Nicolau, Gouverneur von Kuba, prägte es im Jahr 1896 für die Lager, in denen er die einheimische Bevölkerung bringen ließ, um freie Bahn für die Bekämpfung von Aufständischen zu haben. Bis zu 400.000 Kubaner, Greise, Frauen und Kinder, saßen in den oft nur mit Bretterzäunen abgesperrten Arealen. Die genaue Zahl der Opfer kennt niemand; doch es könnten bis zu 100.000 gewesen sein – jeder vierte Insasse.
An diesem brutalen Vorgehen nahm sich wenige Jahre später General Herbert Kitchener in Südafrika ein Beispiel. Er stand einem Aufstand der holländischen Buren gegenüber, die sich dem Anspruch der britischen Weltmacht widersetzten, ins Empire eingegliedert zu werden. Anfangs konnten sich die burischen Einheiten gegen die schwachen britischen Truppen in der Kapkolonie behaupten, vor allem, weil sie von den vielen Tausend Farmen im Süden des Kontinents unterstützt wurden.
Kitchener setzte auf nackte Brutalität: Buren, vor allem Frauen und Kinder, wurden von ihren Farmen deportiert, die niedergebrannt wurden. Die Menschen kamen in riesige Zeltlager, die mit schlichten Bretterzäunen vom Umland getrennt waren. Offiziell sollten sie zum Teil von britischer Seite verpflegt werden und auch selbst Nahrungsmittel anbauen, doch dafür eigneten sich die Böden kaum. Außerdem hockten viel zu viele Menschen auf deutlich zu kleinem Raum zusammen, um eine Selbstverwaltung zu erlauben.
Bald verbreiteten sich Gerüchte über unhaltbare Zustände in den ganz nüchtern als "refugees camps" oder eben auch "concentration camps" genannten südafrikanischen Lagern in Großbritannien. Auch Emily Hobhouse hörte davon. Die Menschenrechtsaktivistin und Frauenrechtlerin stammte aus der britischen Oberschicht; ihr Vater war in Eaton und Oxford ausgebildet worden, ihr Onkel war Lord Arthur Hobhouse, ein bekannter Richter und Mitglied des Oberhauses.
Emily setzte sich durch mit ihrem Wunsch, sich selbst in Südafrika ein Bild der Lage zu machen. Am 24. Januar 1901, im Hochsommer der Südhalbkugel also, traf sie in der Stadt Bloemfontein ein. Am nächsten Tag fuhr sie weiter zum "refugee camp" in der Nähe – und war geschockt: "Ein Zeltlager, einige Kilometer von Bloemfontein entfernt, mitten in der Einöde; nirgendwo ein Baum oder irgendetwas anderes, das Schatten spenden konnte", schreibt der niederländische Historiker Martin Bossenbroek in seiner neuen Geschichte des Burenkrieges "Tod am Kap".
Rund 2000 Frauen und Kinder sowie einige wenige Männer waren hier interniert. Die Zelte waren glühend heiß, Möbel gab es nicht, sondern nur für jeden eine Decke – keine Feldbetten, keine Stühle, keinen Tisch. Emily Hobhouse erfuhr, dass das Lager bei Regen unter Wasser stand. Sanitäre Einrichtungen gab es nicht, ebenso wenig eine Krankenstation. Die Aktivistin aus Großbritannien nahm sich vor, das zu ändern.
Hohe Todesraten gab es beiden Lagersystemen
Sie ging zum Lagerkommandeur, einem Major R. B. Cray. "Während ihres Gespräches schienen die Rollen vertauscht zu sein", schreibt Bossenbroek: "Er beklagte sich bei ihr. Er habe kein Geld, kein Material, keine Transportkapazitäten, es sei zum Verzweifeln." Emily Hobhouse ließ sich nicht verunsichern und schrieb in einem Brief an Lady Mary Hobhouse, ihre Tante, die "concentration camps" seien "Mord an Kindern". Es war der Ausgangspunkt für eine öffentliche Kampagne, die trotz verschiedener Versuche von Kitchener und seiner Unterstützer binnen Jahresfrist für die Auflösung der "concentrations camps" sorgte.
Vergleicht man die britischen "camps" mit den deutschen KZs, so fällt auf: Hohe Todesraten gab es in beiden Lagersystemen. Von den 120.000 bis 160.000 Insassen in Südafrika starben wohl 26.000, also ungefähr jeder fünfte. In Dachau beispielsweise kamen von insgesamt 200.000 Insassen zwischen 1933 und 1945 etwa 41.500 um – ebenfalls ein Fünftel. Das gleiche Verhältnis gab es in Buchenwald: Hier waren 1937 bis 1945 etwa 250.000 Menschen inhaftiert, von denen 56.000 das Leben verloren.
Diese Opferdimensionen und der ähnliche Name sind allerdings die einzigen Ähnlichkeiten zwischen britischen "concentration camps" und nationalsozialistischen KZs. Für das mörderische Zwangsarbeits- und Strafsystem der deutschen Einrichtungen gab es in den britischen Lagern keinerlei Entsprechung. Vielmehr handelte es sich um Hungerlager, in denen Menschen mit minimaler Bewachung einem traurigen Ende entgegendämmerten. Ohne Zweifel ein Kriegsverbrechen, das die 1948 verabschiedete Definition des Genozids erfüllte. Schlimm genug und gewiss kein Ruhmesblatt der britischen Geschichte. Aber kein brutales Regime enthemmter Sadisten.
Auch gab es niemals so etwas wie Krematorien in den britischen Lagern Anfang des 20. Jahrhunderts – sie gehörten in allen größeren deutschen KZs von 1937 an zur Standardausrüstung. Und für die systematischen Morde, gar die industrielle Menschenvernichtung wie in Chelmno, den drei Todeslagern der "Aktion Reinhard" Belzec, Sobibor und Treblinka sowie in Auschwitz-Birkenau gab es nicht ansatzweise eine Entsprechung in den grausamen, aber eben doch im 19. Jahrhundert verhafteten Lagern des Burenkrieges.
Hitler, Goebbels und der Propagandafilm "Ohm Krüger" lagen deshalb nur sehr eingeschränkt richtig: Das eigentliche KZ-System war eben doch eine deutsche "Innovation", so wie der enorm opferreiche Gulag eine sowjetische Erfindung war. Der wichtigste Unterschied zwischen Großbritannien einerseits, NS-Deutschland und der UdSSR andererseits war: Alarmiert von Emily Hobhouse, wurden die Exzesse in Südafrika bald nach Bekanntwerden weitgehend abgestellt. Das Dritte Reich und Stalins Regime aber ließen sich durch keine öffentliche Kritik beeindrucken, sondern eskalierten den Schrecken nach Belieben.
Quelle : welt.de
Tags: