“Der eigentliche Putsch beginnt jetzt erst“

  16 Juli 2016    Gelesen: 860
“Der eigentliche Putsch beginnt jetzt erst“
Ein Land in Angst und Schrecken. Erdogan gibt den Imperator. Ein dilettantischer Putsch. Was am Ende einer der blutigsten Nächte in der Geschichte der Türkei bleibt, ist ein übler Verdacht.
Die Menge wogt. Leiber drücken einander, Arme sind in die Luft gestreckt, um verwackelte Handyaufnahmen zu machen. Auch die Angehörigen der paramilitärischen Sondereinheiten der Polizei und das übrige Begleitpersonal werden von der schwankenden Menge erfasst. Nur einer steht da, im Auge des Hurrikans: der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan.

Unbewegt, so als würde ihn eine unsichtbare Wand vor allem Schieben und Drücken um ihn herum beschützen. Sein Blick: fest und in die Ferne gerichtet. Sein Gesichtsausdruck: der eines Imperators. So, als wollte er einer der Parolen der Menge an Ort und Stelle nachkommen: "Bleib aufrecht, beuge dich nicht, diese Nation ist mit dir!"

Eine gefühlte Ewigkeit lang bleibt Erdogan so stehen, während die Menge skandiert: "Hier die Armee, hier der Kommandant." Oder: "Sag es und wir töten, sag es und wir sterben." Und immer: "Allahu akbar!" – "Gott ist groß!"

Als sich diese Szenen gegen 6.30 Uhr Ortszeit vor dem VIP-Bereich des Atatürk-Flughafens abspielen, ist das, was acht Stunden zuvor mit der Sperrung der beiden Bosporusbrücken begonnen hatte, weitgehend gelaufen. Der versuchte Putsch, der offenbar von einer Gruppe von Offizieren, wohl hauptsächlich aus der Luftwaffe, der Marine und der Gendarmerie, begonnen hatte, ist abgewehrt. In einigen Teilen von Istanbul und vor allem in Ankara kam es zu Gefechten, darunter im Parlamentsgebäude, dem Generalstabsgebäude der türkischen Armee und dem Hauptquartier der paramilitärischen Sondereinheiten.

Erdogan ruft Bevölkerung zum Widerstand auf

Es ist nicht Erdogans erster Auftritt in dieser Nacht. Seine erste Rede war kurz vor Mitternacht zu hören. Kurz zuvor war im Staatssender TRT eine Erklärung der Putschisten verlesen worden, die den Sendebetrieb unter ihre Kontrolle gebracht hatten.

Ein "Rat für den Frieden im Land" habe die Macht übernommen, um Rechtsstaatlichkeit und die laizistische Ordnung wiederherzustellen. Erdogan lässt sich zu CNN-Türk verbinden, dem Sender von Medienchef Aydin Dogan, den er in der Vergangenheit schon oft attackiert hatte und der im Laufe der Nacht nicht von Putschisten besetzt werden sollte.

Die Moderatorin hält das Telefon mit dem Videoanruf in die Kamera. Da scheint es, als könnte Erdogan tatsächlich die Macht verlieren. Der Putschversuch gehe von Anhängern des islamischen Predigers Fethullah Gülen aus, sagt Erdogan. Und er ruft die Bevölkerung dazu auf, "sich auf den Plätzen und am Flughafen zu versammeln, um den Putschisten entgegenzutreten". Eine halbe Stunde später ist er auf einer improvisierten Pressekonferenz zu sehen, auf der er ankündigt, nach Istanbul zu fliegen.

"Soldaten, zurück in die Kaserne"

Kurz darauf strömen seine Anhänger auf die Straßen, stellen sich vor Panzer, es kommt zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Putschisten auf der einen Seite und der Polizei und loyalen Truppen auf anderen. Im Istanbuler Mittelklasseviertel Besiktas – alles andere als eine Hochburg der AKP – haben sich vielleicht hundert Leute auf der zentralen Verkehrsschneise versammelt. Sie leiten den Verkehr um.

Ob die Polizei nichts dagegen habe? "Die haben uns darum gebeten", sagt ein Heizungsinstallateur. Aus der Entfernung sind Schüsse zu hören: Auf der Bosporusbrücke liefern sich Polizei und Gendarmerie eine Schießerei. Doch insgesamt wird in Istanbul weniger geschossen als in Ankara, wo unter anderem das Parlament bombardiert wird. Dafür erschallt aus vielen Moscheen der Ruf des Muezzin, nicht nur hier in Besiktas. Mitten in der Nacht, aus Protest.

Kurz darauf in der Nähe des zentralen Taksim-Platzes: Vielleicht 20 Soldaten stehen um das Atatürk-Denkmal, ein paar Hundert Menschen haben sich um sie versammelt. "Soldaten, zurück in die Kaserne!", rufen sie. Sie wirken entschlossen, aber nicht aggressiv. Die Soldaten umklammern ihre Maschinenpistolen, aber man sieht den jungen Gesichtern an, woher sie stammen – Wehrpflichtige aus Anatolien – und was sie empfinden: Angst. Soll das ein Staatsstreich sein? Kurz darauf wird irgendwo in die Luft geschossen. Die Menge gerät in Bewegung, rennt aber nicht weg. Mutig, zweifelsohne.

Einen Panzer friedlich unter Kontrolle gebracht

Ähnlich ist die Situation am Flughafen, dem Hauptschauplatz des Geschehens in Istanbul. Die Putschisten hatten offenbar den Flughafen zeitweise in ihre Gewalt gebracht. Aber allzu viele können es nicht gewesen sein. Innerhalb kurzer Zeit sind alle Zufahrten von mehreren Zehntausend Menschen blockiert, die Erdogans Aufruf folgend dorthin strömen. Gegen zwei Uhr nachts haben Bürger einen Panzer – den einzigen weit und breit – friedlich unter ihre Kontrolle gebracht. Leute mit türkischen Fahnen in der Hand haben den Panzer bestiegen, von irgendwoher muss jemand gekommen sein, der ihn fahren kann, das Fahrzeug entschwindet – von einer johlenden Menge begleitet – in die Nacht.

Doch für die ausgestiegene Besatzung haben viele kein Mitleid. Mehrere Hundert Leute bedrängen die Soldaten, die Menge skandiert "Wir wollen die Todesstrafe", erst in letzter Minuten eilt eine Gruppe von Polizisten heran, die die Soldaten in ihren Mannschaftsbus bringen. Doch die Menge ist immer noch nicht zufrieden, manche schlagen auf den Bus ein, am Ende setzt die Polizei Tränengas ein, um den Weg freizumachen – und die Soldaten vor dem Lynchmord zu retten. Später wird ein Soldat auf der Bosporusbrücke offenbar weniger Glück haben. Wie die Zeitung "Birgün" berichtet, wird er nach dem Ende der Gefechte dort von der aufgebrachten Menge von der Brücke geworfen. In Ankara werden am Morgen Journalisten attackiert.

Als der Morgen anbricht, verlassen die meisten Herbeigeeilten schon wieder den Flughafen. Sie haben die Hoffnung verloren, bis zu Erdogan durchzukommen. Anders als in Besiktas und auf dem Taksim-Platz sind hier auch Frauen unterwegs, es herrscht gelöste Stimmung, immer wieder trifft man auf Wahlkampfbusse der AKP oder mit Lautsprechern bestückte Fahrzeuge von AKP-geführten Bezirksverwaltungen, aus denen Erdogan-Hits vergangener Wahlkämpfe schmettern: "Er ist, wie er scheint/ er bezieht seine Kraft aus der Nation/ Recep Tayyip Erdogan."

Die Rechte vereint

Einzig die Kampfjets, die im Tiefflug über die Szenerie fliegen und donnernd die Schallmauer durchbrechen, stören die Volksfestatmosphäre. In Ankara haben offenbar loyale F-16-Kampfflugzeuge gepanzerte Fahrzeuge der Aufständischen beschossen, Polizisten sollen einen Hubschrauber abgeschossen haben.

Auch vor dem VIP-Gebäude des Flughafens steht ein Wahlkampfbus mit Rednertribüne bereit – man könnte fast annehmen, dass es sich um einen lange geplanten Auftritt handelt. Als Vorredner sprechen der Istanbuler Vorsitzende der AKP und ein Abgeordneter. Von dieser Nacht werden sie noch ihren Kindern erzählen, sagen sie. Die Bürger hätten sich mit "goldenen Lettern ins Buch der Demokratie eingetragen".

Als sich der Ortsvorsitzende bei den Abgeordneten der sozialdemokratischen CHP bedankt, weil sie sich dem Putsch entgegengestellt hätten, pfeifen einige. Dafür bricht beim Dank an die Adresse der nationalistischen MHP lauter Jubel aus. Auch an den Handzeichen der "Grauen Wölfe" in der Menge sieht man: Die türkische Rechte – die AKP und die MHP – ist in dieser Nacht vereint. Die prokurdische HDP, die den Putschversuch ebenfalls verurteilt hat, erwähnt der Redner erst gar nicht. Aber das ist ohnehin nur Ouvertüre. Der Hauptakt ist Erdogan, der an der Treppe zum VIP-Gebäude stehen bleibt und seinen Triumph genießt.

Innere Eskalation erlebt einen neuen Höhepunkt

Vielleicht geht ihm in diesem Moment ein anderer Auftritt am Istanbuler Flughafen durch den Kopf: vor drei Jahren, auf dem Höhepunkt der Gezi-Proteste. Kurz nach Beginn der Proteste war er zu einer Nordafrika-Reise aufgebrochen. In seiner Abwesenheit erteilten der damalige Staatspräsident Abdullah Gül und der damalige Parlamentspräsident Bülent Arinc den Befehl, die Polizei vom umkämpften Taksim-Platz abzuziehen und wenigstens in Istanbul für Entspannung zu sorgen.

Es wäre der Moment gewesen, an dem Erdogan hätte versuchen können, die Situation zu entschärfen. Er tat es nicht. Stattdessen ging er zum Frontalangriff über, beschimpfte die Demonstranten als "Marodeure", die von "ausländischen Kräften" gesteuert würden, und nannte die Proteste einen Putschversuch. Der Beginn einer inneren Eskalation, die in der Nacht zum Samstag einen neuen Höhepunkt erlebt hat.

Die Rückfahrt führt vorbei an einem verlassenen Panzer, vor dem zwei Männer Souvenirfotos schießen.

Die Straßen sind leer, auch Polizei ist kaum noch zu sehen. Der Taxifahrer, ein bekennender Sozialdemokrat um die 50, spricht aus, was viele bereits in der Nacht in den sozialen Medien äußern: "Was soll das für ein Putsch sein mit fünf Panzern und zwei Flugzeugen?", fragt er und redet sich allmählich in Wut. "Dieses Land hat viele Staatsstreiche erlebt, aber so was noch nie. Angeblich ist die Luftwaffe verwickelt. Und dann kann der Präsident mitten im Putsch nach Istanbul fliegen?"

Er sei gegen Machtergreifungen des Militärs, betont er. Doch sein Verdacht lautet: Das hier ist eine Inszenierung. "Erdogan hatte keine Mehrheit für das Präsidialsystem. Und mit seiner Ankündigung, Syrer einzubürgern, hat er auch seine eigenen Anhänger verprellt. Jetzt ist er für alle Zeiten der Held. Ich fürchte, der eigentliche Putsch beginnt jetzt erst."

Tatsächlich bleiben all diese Fragen ungeklärt. Mindestens dilettantisch war dieser Putsch. Am Morgen wird in Istanbul der Verkehr mit Fähren, U-Bahnen und Flügen allmählich wieder aufgenommen. Die vorläufige Bilanz der Nacht: 265 Tote. Bei 161 der Toten handelt es sich laut Ministerpräsident Binali Yildirim um regierungstreue Sicherheitskräfte oder Zivilisten. Hinzu kommen 104 getötete Putschisten, wie es am Samstag aus Regierungskreisen in Ankara hieß. Und fast 3000 festgenommene Militärs im ganzen Land.

Quelle : welt.de

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