“Hier schlafen alle Menschen schon so früh“

  27 Oktober 2015    Gelesen: 682
“Hier schlafen alle Menschen schon so früh“
Vorurteile über Flüchtlinge gibt es viele. Doch wie sieht es umgekehrt aus? Was denken Syrer, Iraker oder Somalis über das Land, in das sie geflüchtet sind? "Die Presse am Sonntag" hat nachgefragt.

24.10.2015 | 17:58 | von Eva Winroither (Die Presse)

Für die einen sind sie die Armen, die vor Bomben fliehen, für andere sind sie Schmarotzer und Menschen, die ein stabiles Land in Schieflage bringen könnten. Seit Anfang des Jahres haben mehr als 55.000 Menschen um Asyl angesucht. Immer wieder tauchen Beschreibungen über sie auf: traumatisiert, muslimisch, hilflos. Für die meisten Österreicher sind die Flüchtlinge seltsame Wesen aus einer anderen Welt.

Doch auch Syrer, Afghanen, Iraker und Somalis haben Fragen, Bilder und Stereotype im Kopf. Sie grübeln, wie sie in dieses neue Land passen sollen. Ärgern sich, wenn ein paar ihrer Landsleute nicht Deutsch lernen, mühen sich mit der Bürokratie ab, wundern sich über freche Bettler. Sie sehen Menschen, von denen sie abgelehnt werden, aber auch solche, die sie willkommen heißen. Was denken sie sich dann? „Die Presse am Sonntag“ hat bei bereits anerkannten Flüchtlingen und noch im Verfahren steckenden Asylwerbern nachgefragt.


Mohammed, 23 Jahre, Idlib (Syrien)

Flüchtling, lebt seit einem Jahr hier

Die Österreicher trinken ganz viel Wasser. Sie haben immer ein Glas in der Hand. Bei uns habe ich das so nie gesehen. Dort trinkt man ganz viel Kaffee und Tee. Viele Österreicher sagen außerdem, sie sind pünktlicher als Ausländer. Aber ich finde, das stimmt nicht. Ich kenne nur unpünktliche Österreicher. Eine Sache, die ich an meinem ersten Tag in Wien gelernt habe, ist, dass man in der U-Bahn einen Fahrschein braucht. Ich bin auf dem Westbahnhof angekommen und wollte mich mit einem Freund treffen. Der hat mir gesagt, ich brauche kein Ticket. Ich habe ihm geantwortet, dass es total peinlich ist, wenn sie einen ohne Fahrschein erwischen. Und er darauf: „Nein, nein, hier gibt es keine Kontrolle, ich bin seit drei Monaten hier und noch nie kontrolliert worden.“ Daraufhin bin ich ohne Ticket losgefahren. In der Spittelau haben sie mich dann kontrolliert und ich musste 103 Euro Strafe zahlen. Das ist viel Geld. Aber ich weiß, ich habe einen Fehler gemacht. Jetzt habe ich eine Monatsfahrkarte.


Ammar, 31 Jahre, Aleppo (Syrien)

Asylwerber, seit einem Monat hier

Wir waren eine funktionierende Gesellschaft in Syrien vor dem Krieg. Manchmal habe ich mein Handy auf dem Autodach vergessen. Einfach so. Am nächsten Tag war es aber noch immer da. Keiner hat es genommen. Jetzt ist alles anders. Dort, wo ich herkomme, konnte man nicht mehr leben. Ich habe oft versucht, meine Frau zum Essen auszuführen, aber es war zu gefährlich. Wenn man zu einem Restaurant geht, muss man an vielen Checkpoints vorbei, manchmal sah man Bomben hochgehen, manchmal wurde jemand in der Straße wenige Meter neben dir von einem Scharfschützen erschossen. Wien ist eine wunderschöne Stadt. Und sie erinnert mich an meine Heimat, Aleppo. Auch dort gibt es moderne Plätze und ganz alte, wo man hingeht, sich entspannt und gleich wohlfühlt.

Mein einziges Problem hier ist die Bürokratie. Es dauert einfach alles viel zu lang. Ich habe einen Monat warten müssen, bevor ich ein Erstaufnahmegespräch hatte. Andere kamen nach mir und waren mit dem Gespräch vor mir dran. Für mich ist das ja in Ordnung, aber meine Frau ist noch in Syrien, und sie ist in Gefahr. Ich will, dass es schnell geht, und nicht, dass ich nur hier sitze und warte.


Massoud, 31 Jahre, Kabul (Afghanistan)

Flüchtling, seit drei Jahren in Wien

Österreich ist eine richtige Demokratie, wo Menschenrechte großgeschrieben werden. Mehr habe ich davor nicht gewusst. Zum Glück war es dann auch so, als ich hergekommen bin. In Österreich sind alle gleich. Die Gesetze bestimmen das Leben von jedem Menschen. Egal, ob jemand Richter ist oder Bauarbeiter. Das ist in Afghanistan wegen des Krieges nicht so. Dort kannst du dir ein ganzes Gerichtsverfahren kaufen. Trotzdem vermisse ich Afghanistan in mancher Hinsicht. Es gibt einen großen Unterschied zwischen meinem letzten Beruf im diplomatischen Bereich und meinem Leben hier. Hier muss ich wieder ganz von vorn anfangen. Es tut weh, wenn ich meinen Lebenslauf ansehe: Wo ich war und wer ich jetzt bin.


Avin, 26 Jahre, Qamischli (Syrien)

Asylwerberin, Ankunft: vor einem Monat

Ich lerne Deutsch mit einer Übersetzersoftware am Handy. Man muss Deutsch können, um mit Österreichern ins Gespräch zu kommen. Daher will ich die Sprache unbedingt lernen. Zu uns kommen regelmäßig Freiwillige, die mit uns lernen. Aber es sind jedes Mal andere, und es kommen auch ständig neue Flüchtlinge dazu. So kommen wir nicht über den Inhalt der Anfangsstunden hinaus. Ich liebe die alten Gebäude in Wien. Mein Bruder und ich gehen oft am Donaukanal spazieren, weil wir eigentlich noch immer nicht wissen, wo man hingehen soll. Klar gibt es Stadtpläne, aber darin steht nicht, wo Österreicher normalerweise ihren Kaffee trinken und wo sie sich treffen.


Teeba und Istabrak, 17 und 25, Bagdad (Irak)

Seit einem Monat hier

Ich mag die Musik und die Architektur in Wien. Ich kannte Mozart, bevor ich hergekommen bin. Oder wusste, dass der Stephansdom von Hitler zerstört wurde. Von der Türkenbelagerung Wiens haben wir im Geschichtsunterricht gelernt. Klar hatten Istabrak und ich auch Vorurteile, bevor wir hierhergekommen sind. Wir haben gehört, dass es ein Problem sein könnte, dass wir Muslime sind. Und dass Menschenrechte nicht eingehalten werden. Aber zum Glück ist dem nicht so. Für uns ist das wichtig: Wir sind vor einem religiösen Krieg geflohen. Wir wollten hier nicht wieder wegen der gleichen Sache Probleme haben.


Baker, 29 Jahre, Fallujah (Irak)

Etwas mehr als drei Wochen hier

In Wien gab es kurz nach meiner Ankunft Wahlen. Da hat ein Drittel die ausländerfeindliche Partei gewählt. Aber für mich geht das in Ordnung. Das heißt nämlich, dass zwei Drittel die Partei nicht gewählt haben. Das war auch das Erste, was ich mir gedacht habe, als ich das Ergebnis gesehen habe: Die guten Menschen sind mehr als die schlechten. Auf das konzentriere ich mich.


Firail, 45 Jahre, Bagdad (Irak)

Ist mit ihren Kindern seit einem Monat hier

Wir hatten nicht vor, in Österreich zu bleiben. Eigentlich wollten wir weiter nach Finnland. Aber dann hat uns gleich am ersten Tag einfach so eine österreichische Familie bei sich aufgenommen. Wir standen auf der Straße und wussten nicht wohin, und sie haben uns zu sich nach Hause geholt. Da dachte ich, in einem Land, in dem die Menschen so freundlich sind, bleiben wir. Die Österreicher sind wundervoll. Und das Land so friedlich, im Gegensatz zu Bagdad. Ich vermisse meinen Ehemann, er ist schwer krank und konnte nicht mehr mitgehen. Wir hatten auch nicht genug Geld. Also hat er sich geopfert, dass ich mit den Kindern fliehen kann. Ich mache mir solche Sorgen um ihn. Ich habe bereits zwei Kinder im Krieg verloren: meinen 25-jährigen Sohn und meine kleine Tochter. Sie war erst fünf Monate alt.


Massoud, 31 Jahre, Kabul (Afghanistan)

Flüchtling, seit drei Jahren hier

Österreichisches Essen ist viel gesünder als afghanisches. In Österreich gibt es ganz viel Vegetarisches, und man kocht mit wenig Öl. Bei uns ist es umgekehrt. Alles ist ölig. Wenn du einen Reis machst, dann wird der mit Öl zubereitet. In Österreich wird bei der Ernährung sehr systematisch vorgegangen: Es gibt eine Vorspeise, eine Hauptspeise und eine Nachspeise.


Sara, 27 Jahre, Bagdad (Irak)

Asylwerberin, seit einem Monat hier

Ich habe schon unangenehme Erfahrungen mit Bettlern gemacht. Sie halten keinen Respektabstand und wollen Geld. Einmal bin ich in der U-Bahn gefahren und habe ein Sandwich gegessen, ein Bettler hat um Geld gebeten, aber ich hab ihm keines gegeben. Da hat er mir einfach das Sandwich aus der Hand genommen. Aber gut, im Irak haben sie mir alles weggenommen. Hier ist es nur ein Sandwich. Damit komme ich klar.


Ammar, 28 Jahre, Idlib (Syrien)

Anerkannter Flüchtling, seit einem Jahr hier

Wien ist eine Großstadt. Das gefällt mir gut. Aber hier schlafen alle Menschen schon so früh. In Syrien gehst du um elf Uhr in der Nacht hinaus und alle Geschäfte haben offen. Es ist auch sehr schwierig, Österreicher kennenzulernen. Ich glaube, es liegt daran, dass es kaum Österreicher in Wien gibt. Es sind sehr viele Ausländer hier, Ungarn, Bulgaren, Serben, Kroaten, Türken, und jeder spricht in seiner Sprache. Als ich das erste Mal im zehnten Bezirk war, dachte ich, ich bin in der Türkei gelandet. Wir Syrer nennen ihn daher auch den türkischen Bezirk. Mir ist das eigentlich alles egal. Aber ich möchte endlich jemanden kennenlernen, mit dem ich Deutsch sprechen kann. Das ist sehr wichtig für mich. Ich habe noch nie mit jemandem auf der Straße gesprochen. Nur kurze Wörter wie: „Danke“ oder „Bitte“. In Syrien wäre das anders. Da spricht man Leute auf der Straße an. Vielleicht liegt es daran, dass die Leute hier Angst vor Fremden haben.

Mohammed, 28 Jahre, Idlib (Syrien)

Flüchtling, seit neun Monaten hier

Mein Lieblingsort in Wien ist der Viktor-Adler-Markt. Dort gibt es einen syrischen Verkäufer, mit dem ich mich unterhalten kann. In Syrien gibt es aber frischeres und besseres Obst. Trauben schmecken bei uns viel süßer. Vermutlich liegt es am Klima. In meiner Heimat gibt es außerdem hundert verschiedene Apfelsorten auf dem Markt. Hier bekomme ich nur zwei bis drei verschiedene Sorten.


Ahmad, 16 Jahre, Zentralafghanistan

Asylwerber, seit acht Monaten hier

Ich bin seit acht Monaten in einem Asylwerberheim in Wien. Ohne Hoffnung und ohne eine Erklärung, wie es weitergehen wird. Wir sagen, es dauert zu lang, aber es ändert sich nichts. Wir können nicht über unsere Zukunft nachdenken. Zum Glück gehe ich jeden Tag in die Schule, mein Lieblingsfach ist Biologie. Ich will einmal Arzt werden.


Mohammed, 23 Jahre, Idlib (Syrien)

Anerkannter Flüchtling, seit einem Jahr hier


Vielleicht haben Österreicher ja recht mit ihrer Angst vor Ausländern. Österreich hat viele Ausländer, und das ist gefährlich für ihre Kultur. Wir haben 2003 und 2006 auch Millionen an Flüchtlingen aus dem Irak und Libanon aufgenommen. Aber unsere Kulturen sind ähnlich. Als die Flüchtlinge zu uns kamen, haben sie vom Staat auch keine Unterstützung erhalten. Hier in Österreich bekommen Flüchtlinge sehr leicht Geld. Einige bleiben auch sehr lang ohne Arbeit und versuchen gar nicht erst, Deutsch zu lernen. Ich verstehe, wenn die Österreicher deswegen verärgert sind. Man bezahlt ja Steuern, um sein Land für sich selbst besser zu machen. Und nicht für Fremde. Aber dann denke ich mir, Europa muss auch ein bisschen etwas ertragen. Wir haben den Krieg in Syrien wegen den USA und Russlands. Und Europa hat Bashar al-Assad lang unterstützt.



Ashraf, 27 Jahre, Idlib (Syrien)

Lebt seit fast eineinhalb Jahren hier

Ich wollte zuerst nach Deutschland, weil ich dort viele Verwandte habe, aber die Polizei hat mich hier erwischt. Das ist gut, Österreich gefällt mir viel besser. Ich bin gerade dabei, Deutsch auf B2-Niveau zu lernen, damit ich meine Ausbildung anerkennen lassen kann. Ich bin Apotheker. Einen großen Unterschied zu syrischen Apotheken sehe ich nicht. In Syrien hatten die wenigsten Menschen eine Krankenversicherung, also mussten sie die Medikamente selbst bezahlen. Man hat auch mehr Medikamente ohne Rezept bekommen.


Mohammed Ismael, 17 Jahre, Somalia

Asylwerber, seit drei Monaten hier

Ich habe erst hier gelernt, was es heißt, in einem friedlichen Land zu leben. Ich kannte das vorher nicht. Wenn ich in der Früh aufgewacht bin, dann wusste ich nicht, ob ich überleben würde. Hier will ich jetzt studieren, aber zuerst muss ich Deutsch lernen. Ohne Deutsch geht hier gar nichts. Und ich mag das Wetter in Österreich. In Afrika haben wir zwölf Monate Sommer. Hier gibt es Jahreszeiten. Ich freue mich schon darauf, wenn es richtig kalt wird.


Esmat „Hessi“, 17 Jahre, Kabul (Afghanistan)

Asylwerber, lebt seit wenigen Monaten hier

Ich habe bereits viele österreichische Freunde über das Fußballspielen gefunden. Einer meiner besten Freunde hat mich gefragt, ob ich in seiner WG wohnen will. Mal schauen, ob ich darf, aber eher nicht, weil ich noch minderjährig bin. Ich würde es mir aber wünschen, denn in Erdberg, wo ich jetzt wohne, sind so viele Menschen, dort kann ich mich nicht auf die Hausübung konzentrieren. In Afghanistan war ich ein bekannter Rapper, ich habe Konzerte vor 11.000 Menschen gegeben. Hier bin ich nichts. Aber Musik ist weiterhin mein Leben. Ich will unbedingt damit weitermachen. Im Moment ist das nicht möglich. Ich muss zuerst Deutsch lernen und meine Papiere bekommen. Ich bin auch wegen meiner Musik geflohen. Meine Lieder waren gegen die Taliban und Terroristen gerichtet. Das haben sie mir übel genommen.

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