In den Bergen fühlen sie sich frei

  21 September 2016    Gelesen: 858
In den Bergen fühlen sie sich frei
Immer mehr Frauen in Iran gehen klettern – und erleben ein neues Freiheitsgefühl. Am höchsten Gipfel des Landes trifft man viele Abenteuerlustige.
Die Stimmung ist ausgelassen. Obwohl noch 2000 Höhenmeter vor ihnen liegen, sind die etwa 20 Frauen und Männer aus Ghom guten Mutes. Sie singen und pfeifen, als wäre es ein Fest. In einer iranischen Stadt würde man so viel Überschwang nicht erleben. Es passt nicht zu den strengen Sittengesetzen der Islamischen Republik, die Alkohol verbieten und Frauen das Kopftuch aufzwingen. Gestern sind sie aus ihrer zwei Fahrstunden südlich von Teheran gelegenen Heimatstadt angereist, heute wollen sie bis zur Hütte aufsteigen und morgen dann den Gipfel erklimmen, erzählt uns einer, während er uns in einer Tüte das typische Sesam-Gebäck aus Ghom anbietet. Das Ziel der Bergsteiger ist der Gipfel des 5671 Meter hohen Damavands, des höchsten Berges Irans. Um Kräfte zu sparen, lässt die Gruppe das schwere Gepäck von Mulis tragen. Die Frauen und Männer selbst haben nur kleine Rucksäcke dabei.

In Iran wächst die Zahl der Bergsteiger kontinuierlich. „In den ersten Jahren nach der Revolution gingen die Iraner freitags in die Moschee“, sagt Cyrus Etemadi. „Jetzt gehen immer mehr am Freitag in die Berge.“ Der Sechsundsiebzigjährige beobachtet die Entwicklung des Wanderns und Bergsteigens in Iran so lange wie nur wenige andere im Land. Er selbst stand zum ersten Mal mit gerade einmal vier Jahren auf einem 4000 Meter hohen Berg. Später hat Etemadi aus der frühen Leidenschaft ein Geschäft gemacht. Schon zu Schah-Zeiten betrieb er eine Agentur und organisierte für Ausländer Bergtouren in Iran. Dadurch eröffneten sich Jobs für Iraner, denn die Ausländer brauchten jemanden, der ihnen den Weg zeigte. „Gleichzeitig haben diese Touristen die Menschen in Iran für das Bergsteigen interessiert“, sagt Cyrus Etemadi. „Wenn Ausländer nach Iran reisen, um auf Berge zu steigen, dann muss das ja einen gewissen Reiz haben, dachten sich viele.“ Tatsächlich haben Bergsteiger in Iran genug zu tun. Es soll 400 Viertausender geben und 3000 Dreitausender. Nachgezählt hat das wohl niemand.

„In den Bergen fühle ich mich frei“
Vor allem Frauen suchen in den Bergen von Elburs- und Zagros-Gebirge heute die Entfaltungsmöglichkeiten, die ihnen die Islamische Republik ansonsten verwehrt. Eigentlich ist es strafbar, wenn eine Frau in der Öffentlichkeit Kontakt zu einem Mann hat, mit dem sie nicht verheiratet oder verwandt ist. In Kletterhallen dürfen Männer und Frauen nur getrennt voneinander trainieren. Außerhalb der Wohnung müssen Frauen ihr Haar mit einem Kopftuch bedecken und ein langärmliges Oberteil tragen, das über die Hüften fällt und die Körperformen verhüllt. Wer sich nicht daran hält, kann sicher sein, an einem der nächsten Tage bei der Polizei vorsprechen zu müssen.

Am Damavand, der wie in anderen Ländern auch als höchster Berg eine besondere Anziehungskraft hat, trifft man Frauen aus allen gesellschaftlichen Schichten. Eine Musikerin aus Teheran erzählt, die Natur und ihre Geräusche zögen sie an. Eine Lehrerin aus Shiraz, sie hat schon erwachsene Kinder, hat gemeinsam mit ihrem Mann erst vor drei Jahren das Wandern und Bergsteigen als Freizeitbeschäftigung für sich entdeckt. Und in einer Gruppe von Frauen aus Maschhad ist die älteste schon 67 Jahre alt. Seit fast 20 Jahren gehen sie gemeinsam in die Berge, weil sie gerne etwas miteinander unternehmen und das am besten am Berg möglich sei.

Auch wenn sie alle ganz unterschiedliche Motive nennen – sie eint die Suche nach Selbstbestätigung, die sie im Alltag nicht finden können. „In den Bergen fühle ich mich frei“, sagt Farah Mansouri. „Ich kann mich dort mit Männern messen und ihnen zeigen, zu was ich in der Lage bin.“ Das Bergsteigen habe ihr das Selbstvertrauen gegeben, das sie in Iran als Frau sonst nicht hätte erlangen können. Als Farah Mansouri im Alter von 16 Jahren mit dem Bergsteigen begann, war sie noch ziemlich allein in der Höhe. Und auch wenn es heute viele kletternde und bergsteigende Frauen in Iran gibt, ist die Vierzigjährige weiter oft mit Männern unterwegs. Denn mittlerweile gehört Farah Mansouri zu den besten Kletterern des Landes. Einige Bergsteigerinnen sind sogar international bekannt geworden: das Kletter-Ass Nasim Eshqi zum Beispiel oder die Höhenbergsteigerin Leila Esfandyari, die 2011 am Gasherbrum II abstürzte.

Als Ausdruck von Protest
Farah Mansouri, die als Informatikerin arbeitet, klettert im siebten Schwierigkeitsgrad durch „Big Walls“, mehrere hundert Meter hohe Wände wie die 650 Meter hohe Nordwand des Alam Kuhs (4848 Meter), etwa 150 Kilometer westlich des Damavands, deren Routen es in der Schwierigkeit auch mit den klassischen Routen in den Alpen aufnehmen können. Und sie steigt auch auf hohe Berge, wie beispielsweise auf die steile Eispyramide des 7010 Meter hohen Khan Tengris im Tien-Shan-Gebirge, den sie gemeinsam mit ihrem Mann Mehdi über die technisch anspruchvolle Nordroute bezwang.

Siebter Schwierigkeitsgrad: Farah Mansouri ist eine der besten Bergsteigerinnen.
Farah Mansouri kommt zum Gespräch in Teheran in einer lindgrünen Tunika. Ihr Haar verhüllt sie unter einem großen Tuch. Dass sie einen sportlichen Kurzhaarschnitt hat, sieht man nur auf den Fotos von ihren Touren, die sie auf dem Smartphone zeigt. Am Berg herrschen eben andere Regeln. Die langärmlige Tunika tauschen Kletterinnen dort durchaus gegen ein T-Shirt oder ein schulterfreies Top. Das Kopftuch hat beim Klettern unter dem Helm keinen Platz. Ganz abgesehen davon, dass der Schal ein echtes Sicherheitsrisiko wäre und man mit einem langen Gewand den Klettergurt nicht richtig anlegen könnte. Wenn sie in den Bergen das Kopftuch tragen, dann als Sonnenschutz. Und gar nicht selten trifft man auch Männer, die sich aus diesem Grund einen Schal über den Kopf legen. Im iranischen Alltag sind kopftuchtragende Männer ein Ausdruck von Protest, wie in der aktuellen Social-Media-Kampagne #MenInHijab, auf die auch die staatlichen Stellen schnell aufmerksam wurden. Am Berg ist aber jeder frei, zu tun und zu lassen, was er will.

Potential des Bergsteigens erkannt
Dennoch sieht die Regierung das Treiben in den Bergen gar nicht ungern, wie auch Bergsteiger bestätigen. Die staatlichen Stellen hätten das Bergsteigen als ein Mittel erkannt, um die jungen Menschen im Land von den Drogen fernzuhalten. Bergsteiger-Vereine erhalten ein paar Rial staatliche Unterstützung. Und sogar die staatlich kontrollierten Medien dürfen heute über den Bergsport berichten. Während noch vor zehn Jahren das Sportprogramm im Fernsehen aus einem leicht adipösen älteren Herrn bestand, der in einem grauen Trainingsanzug auf der Mattscheibe vorturnte, werden heute Reportagen über Kletter- und Canyoning-Kurse in einer beeindruckenden Felslandschaft im Süden des Zagros-Gebirges gezeigt. Männer in knallbunten Shirts und Hosen und mit bunt verspiegelten Brillen sind da zu sehen. Und eine Frau erklärt den männlichen Kursteilnehmern den Klettergurt.

Auch Farah Mansouri arbeitet nebenberuflich als Bergführerin. Wenn es die Arbeit zulässt, gibt sie Kletterkurse, oder sie führt Gruppen auf den Damavand. Das Potential ist groß: Jede Woche versuchen sich rund 2000 Bergsteiger am höchsten Berg des Landes. Und es werden immer mehr.


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