“Wir hätten mehr Dankbarkeit erwartet“

  25 November 2016    Gelesen: 684
“Wir hätten mehr Dankbarkeit erwartet“
Das Europaparlament will die EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei stoppen. Präsident Erdogan reagiert empört, bezeichnet das Votum als "bedeutungslos". Auch türkische Oppositionelle kritisieren die Resolution.
Der Politikaktivist Can Atalay, 40, hat den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan sein halbes Leben lang bekämpft. Er hat 2013 die regierungskritischen Demonstrationen im Istanbuler Gezi-Park mitinitiiert. Und später als Mitglied der sogenannten Juni-Bewegung für mehr Bürgerbeteiligung in der Türkei gestritten.

Die Forderung des Europaparlaments nach einem vorläufigen Abbruch der EU-Beitrittsgespräche mit der Türkei hält Atalay trotzdem für einen Fehler: "Durch Isolation ist niemandem in der Türkei geholfen, schon gar nicht jenen, die für Demokratie eintreten", sagt er.

So deutlich wie nie zuvor haben sich Europas Abgeordnete am Donnerstag gegen Erdogan gestellt. Sie werfen dem türkischen Präsidenten "unverhältnismäßige Repressionen" nach dem gescheiterten Militärputsch vom 15. Juli vor.

"Wir lassen uns von Europa nicht einschüchtern"

Die türkische Regierung hat seit dem Aufstand mehr als 100.000 Staatsbeamte verhaftet oder vom Dienst suspendiert, fast 200 Medienhäuser wurden geschlossen. Zuletzt hat Erdogan innerhalb einer einzigen Woche die Bürgermeister der kurdischen Millionenstadt Diyarbakir durch Zwangsverwalter ersetzt. Er hat die Führung der prokurdischen Partei und 13 Mitarbeiter der "Cumhuriyet", einer der letzten verbliebenen Oppositionszeitungen, festnehmen lassen.

Die Parlamentarier wollen die Verhandlungen mit der Türkei nun aussetzen, bis Ankara zu einem rechtsstaatlichen Verfahren zurückkehrt. Ihre Resolution ist nicht bindend, über einen Abbruch der Gespräche können lediglich EU-Kommission und Staats- und Regierungschefs entscheiden. Dennoch sorgt der Vorstoß der Abgeordneten für heftige Reaktionen in der Türkei. Erdogan bezeichnete die Abstimmung in Straßburg bereits am Mittwoch als "bedeutungslos". Die EU habe sich durch ihre Kritik an der türkischen Anti-Terror-Politik auf "die Seite der Terroristen geschlagen".

Cemalettin Kani Torun, Abgeordneter der Regierungspartei AKP und stellvertretender Vorsitzender des außenpolitischen Ausschusses, bezichtigt Europa der "Doppelmoral". Die Türkei habe die EU in der Flüchtlingskrise vor dem Zusammenbruch bewahrt, sagte er gegenüber SPIEGEL ONLINE. "Wir hätten von Europa mehr Dankbarkeit und Respekt erwartet." Eine Kurskorrektur in Folge der Kritik aus Straßburg schließt Torun aus. "Wir lassen uns von Europa nicht einschüchtern oder erpressen."

Die Resolution könnte die Anti-EU-Stimmung anheizen

Türkische Oppositionelle reagieren gespalten auf das Straßburger Votum. Der Vizechef der prokurdischen Partei HDP, Hisyar Özsoy, betrachtet die Resolution als "überfällige Warnung" an die türkische Regierung. Europa habe den Verfall der Demokratie in der Türkei viel zu lang ignoriert.

Etliche Regierungsgegner jedoch fürchten, ähnlich wie Politikaktivist Atalay, dass ein Abbruch der Beitrittsverhandlungen die Türkei nur noch weiter von Europa entfernen könnte. Erdogan werde die Resolution des Europaparlaments nützen, um Ressentiments seiner Anhänger gegen die EU weiter zu schüren, glaubt Öztürk Yilmaz, der außenpolitische Sprecher der Republikanischen Volkspartei (CHP). "Er kann nun regieren ohne sich um europäische Standards groß scheren zu müssen."

Der Vorsitzende des Istanbuler Thinktanks Edam, Sinan Ülgen, glaubt, Europa und die Türkei müssten ihre Beziehung auf eine neue Grundlage stellen. Der Dialog müsse auch nach einem Abbruch der Beitrittsverhandlungen weitergeführt werden. "Wir brauchen einen weichen Exit."

Quelle : spiegel.de

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