89,5 Prozent erhält Merkel vom Parteitag bei ihrer neunten Wiederwahl zur CDU-Chefin, bei der Kür zu ihrer vierten Spitzenkandidatur. Das ist natürlich ordentlich nach diesem Jahr, in dem, wie sie es in ihrer Rede selbst sagt, Merkel den Christdemokraten "einiges zugemutet" hat. Einem Jahr, in dem sich viele CDU-Mitglieder von ihrer Kanzlerin nicht mehr angemessen vertreten fühlten. In dem sich CDU und CSU einen selbstzerstörerischen Schwesternstreit erlaubten.
Und trotzdem: 90 Prozent plus X hätten es schon werden sollen, damit jedenfalls hatten die CDU-Strategen im Vorfeld gerechnet. Diese Hürde hat Merkel nun knapp gerissen, 99 Delegierte haben gegen sie gestimmt. Es ist ihr zweitschlechtestes Ergebnis bei neun Wahlen zur Parteivorsitzenden, das schlechteste, seit sie Kanzlerin ist. Vor zwei Jahren waren es noch 96,7, zuvor sogar fast 98 Prozent.
Und selbst 89,5 Prozent bedeuten nicht, dass dieser Teil der CDU mit Merkel glücklich ist. Wenn es um die Macht geht, dann schließen sich in der Union die Reihen, das hatte sich schon in den Wochen seit der Verkündung ihrer erneuten Kandidatur abgezeichnet. Allen ist bewusst: Wer außer Merkel sollte der Union die Macht sichern?
Merkels Rede ist keine Kampfansage
Dafür bedarf es gar keines besonders kämpferischen Auftritts in der Essener Grugahalle, genau an jenem Ort also, an dem sie vor mehr als 16 Jahren erstmals zur CDU-Vorsitzenden gewählt worden war. Eine Stunde und 17 Minuten spricht Merkel, es ist eine geschickte, eine grundsätzliche Rede, sie liefert, nimmt die Kritiker ernst, muss sich dabei aber nicht zu sehr verbiegen. Sie überrascht nicht. Sie kann es sich sogar erlauben, ihre Leute zu warnen: "Ich kann nicht versprechen, dass die Zumutungen in Zukunft weniger werden." Weil die Zeiten nun mal so seien, wie sie seien.
Immerhin, die Vorsitzende betont gleich zu Beginn: "Eine Situation wie die des Spätsommers 2015 kann, soll und darf sich nicht wiederholen." Dafür gibt es dankbaren, kräftigen Applaus. Was folgt, ist eine düstere Bestandsaufnahme. Viele Menschen hätten zu Recht den Eindruck, dass die Welt aus den Fugen geraten sei. Syrienkrieg, Terror, Brexit, der Trump-Sieg in den USA. "2016 hat die Welt nicht stärker und stabiler gemacht, sondern eher schwächer und instabiler."
Die Botschaft ist klar: Auch wenn Merkel die international in sie gesetzten Hoffnungen als letzte Fahnenträgerin der Freiheit explizit von sich weist - sie inszeniert sich als personifizierte Verlässlichkeit in unruhigen Zeiten: "In Zeiten wie diesen kommt es mehr denn je auf uns an."
Die Delegierten verzeihen ihr die länglichen Referate über die Chancen und Risiken der Digitalisierung genauso wie die fehlenden Attacken auf den politischen Gegner oder abgedroschene Phrasen wie "Leistung muss sich lohnen" oder "Freiheit in Verantwortung".
Nur selten wird Merkel von wirklich kräftigem Applaus unterbrochen: Als sie das Burkaverbot fordert - wobei ihr Nebensatz "wo immer es geht" im Applaus untergeht. Oder als sie sich von rechten Schreihälsen abgrenzt: "Wer das Volk ist, das bestimmt bei uns noch immer das ganze Volk, das bestimmen wir alle. Und nicht ein paar wenige, und mögen sie auch noch so laut sein."
Aber erst zum Ende packt Merkel die Anhänger im Saal wirklich. Und das ist taktisch genau so gewollt. Da begründet die Kanzlerin, warum sie es noch mal wissen will. "Du musst, du musst", hätten ihr viele gesagt, berichtet die Chefin. Das habe sie berührt. Dann ruft sie: "Ihr müsst, ihr müsst mir helfen." Es ist der wohl stärkste Moment des Auftritts.
Der Appell klingt demütig. Aber Merkel nimmt ihre Partei damit in die Pflicht: Wenn ihr mir jetzt eure Stimme gebt, dann müsst ihr mitziehen. Im Falle einer Niederlage würde Merkel das sicher nicht helfen. Aber um den Parteitag zum allergrößten Teil auf ihre Seite zu ziehen, reicht es allemal. Mehr als elf Minuten klatschen die Delegierten am Ende.
In der Aussprache gibt es Kritik
Dass hinter der schönen Fassade aber eben nicht nur Frieden herrscht, macht die anschließende Aussprache deutlich. "Ich kann die Euphorie nicht teilen", sagt eine Delegierte am Rednerpult. Wer denke, die Flüchtlingskrise sei ausgestanden, der habe den Kontakt zu den Menschen verloren. Es sei unerträglich, wenn alles mit "Harmoniesauce" überschüttet werde.
Ein anderer bemüht den alten Vorwurf, Merkel habe die CDU "nach links geführt" und christdemokratische Prinzipien über Bord geworfen. Christean Wagner vom konservativen Berliner Kreis vermisst eine Strategie, um den "Abwärtstrend" der Union zu stoppen.
Ein weiterer CDU-Mann wedelt mit seinem Mitgliedsausweis und erzählt, dass er sich zuletzt häufiger gefragt habe, ob er in der Partei noch richtig sei. Mit einem "ziemlichen Groll" sei er nach Essen gekommen, aber immerhin: Jetzt sei er "begeistert" von der Rede der Kanzlerin. Die Halle ist zu diesem Zeitpunkt längst nur noch spärlich besetzt, nach Merkels Auftritt ruft das Mittagessen.
Die Chefin dagegen lauscht der Kritik pflichtschuldig an ihrem Platz auf der Bühne, sagt aber nichts dazu. Später, als das Wahlergebnis verkündet wird, erklärt sie: "Ich nehme die Wahl an und freue mich über das Ergebnis." Sie ahnt wohl, eine Garantie, dass wirklich alle mitziehen, sind diese 89,5 Prozent nicht.
Quelle : spiegel.de
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