Zwei Gruppen standen sich an jenem Tag gegenüber. Knapp 2000 ukrainische Hooligans marschierten für die im Februar erfolgreiche Maidan-Revolution und die "Einheit des Landes". Darunter waren viele Nationalisten aus Kiew und Charkiw. Auf der anderen Seite standen jene, die sich "Anti-Maidan" nennen: Ihre Zeichen waren russische Fahnen und das orange-schwarze Georgsband. Der "Anti-Maidan" griff die Hooligans an, die Straßenschlacht begann.
Beide Seiten schossen aufeinander, sechs Menschen starben. Am Abend griffen Hooligans und Nationalisten das Hauptquartier des "Anti-Maidan" an, eine Zeltstadt am Haus der Gewerkschaften. Prorussische Aktivisten verbarrikadierten sich im Innern, Molotowcocktails flogen. Das Gebäude fing Feuer. Am Ende dieses Tages waren 48 Menschen tot.
Aufarbeitung kommt nicht voran
Die Tragödie liegt anderthalb Jahre zurück. Die Aufarbeitung aber kommt kaum voran. Nun stellt der Europarat der Ukraine ein vernichtendes Urteil aus. Es sei "kein substanzieller Fortschritt bei den Untersuchungen gemacht worden", heißt es in einem am Mittwoch in Kiew vorgestellten Bericht. Den Behörden mangele es an der "notwendigen Gründlichkeit und Sorgfalt". Beweise gingen verloren, weil die Straßenreinigung sie am nächsten Tag einfach wegräumte. Die Ruine des Gewerkschaftshauses wurde erst nach Tagen abgesperrt.
Bis heute gibt es zwar mehrere Verfahren wegen der Straßenschlachten, aber nicht eine Anklage wegen des Angriffs auf das Gewerkschaftshaus. Der einzige Verdächtige wurde laufen gelassen, aus Mangel an Beweisen.
Dabei war die Bestialität gut dokumentiert. Einige pro-ukrainische Demonstranten bemühten sich zwar, Menschen aus dem brennenden Haus zu bergen. Zahlreiche Handyvideos zeigen aber auch Angreifer, die weiter Jagd machten. Auf einer Aufnahme ist ein Mann zu sehen, der über eine Feuerleiter floh. Als er den Boden erreichte, setzten ihm Schläger zu. Er kletterte zurück ins brennende Haus. Ein anderes Video zeigt Menschen, die aus Fenstern sprangen. Viele bleiben verletzt auf dem Asphalt liegen. Dort waren sie einem Mann ausgeliefert, der mit einem Baseball-Schläger auf sie eindrosch.
Wirkung über die Stadtgrenzen hinaus
Die Rüge des Europarats ist mehr als eine Spitzfindigkeit des Westens. Die Geschehnisse von Odessa haben Wirkung über die Stadtgrenzen hinaus entwickelt. Die Separatisten in Donezk und Luhansk rechtfertigen ihren bewaffneten Kampf gegen Kiew als Notwehr gegen mordende Nationalistenbanden. Russische Medien sehen das genauso: Odessa sei der Beweis, dass in der Ukraine gezielt Jagd gemacht werde auf Russland-Freunde.
Die Ukraine hat wenig getan, um solche Vorwürfe zu entkräften. Der damalige Gouverneur von Odessa rechtfertigte die Brandstiftung sogar: Um "bewaffnete Terroristen zu neutralisieren" sei das Vorgehen "legal" gewesen. Heute sind nur noch zwei Ermittler mit dem Fall befasst.
Der Bericht führt alle bis heute bekannten Fakten auf. Verschwörungstheorien stützt er nicht. Der Europarat gibt auch die Nachforschungen einer Bürgerinitiative aus Odessa wieder. Die Aktivisten nennen sich "Gruppe 2. Mai". Von ihnen stammt die transparenteste Untersuchung der Tragödie. Hinweise auf ein gezieltes Komplott haben sie nicht gefunden. "Im Gegenteil", sagt Sergij Dibrow, Reporter und ein Sprecher der Gruppe. "Alles entwickelte sich chaotisch, spontan, unvorhersehbar". Die eigentliche Ursache sei die "Degeneration aller staatlichen Stellen, hervorgerufen durch die allgegenwärtige Korruption".
Der 90-Seiten-Bericht des Europarats ist auch eine Chronik des Behördenversagens. So wusste die Polizei etwa seit Tagen von Plänen, das "Anti-Maidan"-Lager am Gewerkschaftshaus zu zerstören. Sie brachte dort aber nur eine Hundertschaft in Stellung, ebenso im Stadtzentrum. Die Beamten schauten tatenlos zu, als ein prorussischer Kämpfer mit einem Gewehr in die Menge schoss.
Das Kommando hatte an dem Tag der Vize-Polizeichef Dmitrij Futschedschi. Seine Rolle bleibt rätselhaft. Am 4. Mai ließ er einen prorussischen Mob das Tor zu seiner Polizei-Zentrale mit einem Lastwagen aufbrechen und Dutzende Gefangene befreien. Eine Einheit der Sonderpolizei rückte zwar an, griff aber nicht ein. Verhören konnten die Ermittler den Kommandeur allerdings nicht mehr: Als sie Futschedschi Mitte Mai endlich auf die Fahndungsliste setzten, hatte er sich bereits ins Ausland abgesetzt.
Hilfe kam auch nicht von der Feuerwehr. Die nächste Wache liegt zwar keine 500 Meter vom Gewerkschaftshaus entfernt. Der damalige Chef der Feuerwehr gab zu Protokoll, er habe seinen Männern das Ausrücken ausdrücklich verboten. Die Lage sei zu gefährlich gewesen. Gut möglich, dass ein Rettungsprofi ganz anders entschieden hätte: Von dem Feuerwehr-Chef heißt es in Odessa, er habe den Posten nur der Tatsache zu verdanken gehabt, dass sein Vater einmal Bürgermeister war.
Die Internetzeitung "Dumskaja" machte später einen Mitschnitt aus der Notrufzentrale publik. Dort ist zu hören, wie die Telefon-Dame Anrufern kühl beschied, von dem Feuer gehe gar keine Gefahr aus. Dann hängt sie auf. Später kam ein Anruf aus dem Gewerkschaftshaus selbst. "Wir sind jetzt unterwegs", beruhigte die Telefonisten. Die Antwort war ein Schluchzen: "Wir werden jetzt verbrennen."
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