Handelte es sich bei der Türkei um einen demokratischen Rechtsstaat, wäre nun klar, was geschehen muss: Tathergang ermitteln, Täter ausfindig machen, sie vor Gericht stellen, verurteilen, anschließend entsprechend bestrafen.
Aber die Türkei ist weder eine Demokratie noch ein Rechtsstaat, also läuft alles anders. Noch bevor sich am Sonntag die "Freiheitsfalken Kurdistans", kurz: Tak, eine radikale Splittergruppe der kurdischen PKK, zu den Taten bekannten, drohte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan mit "Vergeltung". Auch Innenminister Süleyman Solu sagte allen Ernstes: "Unsere dringlichste Aufgabe ist, Rache zu nehmen."
Man ahnt, wie das zu verstehen ist, denn man kennt es aus der jüngsten Vergangenheit: bürgerkriegsähnliche Zustände in den überwiegend kurdisch besiedelten Städten im Südosten des Landes, wochenlange Ausgangssperren, Belagerung und Beschuss von Wohngebieten. Der Tod von Zivilisten wird damit gerechtfertigt, das seien ja alles PKK-Sympathisanten. Zudem wird Politikern der prokurdischen Oppositionspartei HDP unterstellt, die PKK zu unterstützen. Mit dieser Argumentation wurden sie ohne Prozess ins Gefängnis geworfen, darunter die Parteispitze.
Mord ist Mord, Terror ist Terror
Auf der anderen Seite reden jetzt im Internet Tausende von PKK-Anhängern dem Terror das Wort. Von einem "legitimen bewaffneten Widerstand" wird da geschrieben, von "Kampf gegen das Böse" und "Résistance" - als ob das wahllose Ermorden von Polizisten und Zivilisten durch irgendetwas zu rechtfertigen wäre, als ob die Täter in irgendeiner Weise heldenhaft gehandelt hätten. Mord ist Mord, Terror ist Terror. Gewalt lässt sich nicht dadurch rechtfertigen, dass man, aus welchen Gründen auch immer, nicht in der Lage ist, eine kraftvolle demokratische Opposition auf die Beine zu stellen.
Den Preis für diesen Irrsinn - unverhältnismäßige staatliche Gewalt auf der einen Seite, Terror auf der anderen - zahlen die Menschen, die einfach nur in Frieden leben wollen. Sie leben inzwischen in Angst, bangen um ihre wirtschaftliche Existenz, rechnen mit weiterer Gewalt, womöglich einem Bürgerkrieg.
Erdogan hat Sicherheit versprochen und das Gegenteil erreicht
Der Ruf des Landes, einst beliebtes Reiseziel, hat international gelitten. Die Türkei wird zum Symbol dafür, wie ein Land unter autokratischer Herrschaft zwar wirtschaftlich aufsteigen kann, was unter Erdogan einige Jahre lang der Fall war, wie es aber mit einem Land auch bergab geht, wenn es keine politischen Kompromisse, keinen Diskurs, keinen Ausgleich gibt.
Erdogan verspricht, seinem Land Ruhe und Sicherheit zu bringen, wenn man ihn nur an der Macht halte. Aber allein Istanbul hat in diesem Jahr mehrere Anschläge mit Dutzenden von Toten erlebt. Insgesamt sind in der Türkei seit Sommer 2015 knapp 400 Menschen bei Terrorangriffen ums Leben gekommen. Gleichzeitig schießt das türkische Militär auf Teile der eigenen Bevölkerung, unter dem Vorwand der Terrorbekämpfung. Erdogan ist seit Jahren an der Macht, viel mächtiger, als er es ohnehin ist, kann er nicht werden. Die Türkei ist in den zurückliegenden zwei, drei Jahren dramatisch instabiler geworden. Erdogans Politik hat zum Gegenteil von Sicherheit geführt.
Er müsste echte Demokratie zulassen, Meinungsvielfalt, Kritik, Opposition, Pressefreiheit, Rechtsstaatlichkeit. Er müsste den Terror gezielt bekämpfen, nicht "Rache" üben an ganzen Bevölkerungsteilen, und gleichzeitig den Kurden den Raum geben, den sie in der Gesellschaft einnehmen. Und die Terroristen müssten das staatliche Gewaltmonopol akzeptieren und einsehen, dass es keinen guten Terror gibt und dass sie keine Helden sind, sondern Verbrecher.
Aber von solchen Einsichten scheint die heutige Türkei weiter denn je entfernt zu sein, auf beiden Seiten.
Quelle : spiegel.de
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