Kein Jubel liegt über Moskaus Rotem Platz, als die Sowjetunion am 25. Dezember 1991 ihren letzten Atemzug tut. Kein Protest, nur nasskalte Winterluft und wenig Schnee. Der triste Alltag hat die Menschen im Griff, in Moskau regiert der Mangel.
Fleisch ist in Hunderten Geschäften ausgegangen, melden die Zeitungen, Zucker wird rationiert. Die Frachtflugzeuge, die sonst Nachschub bringen, bleiben am Boden, es fehlt Kerosin. Am Flughafen Scheremetjewo landen Maschinen aus den USA, mit Essensrationen der US-Armee, übrig geblieben vom Golfkrieg.
Präsident ohne Land
Am Abend schaltet das Staatsfernsehen zu einer Sondersendung in den Kreml. Arbeitszimmer Nummer vier ist eine detailgetreue Nachbildung des echten Büros des Staatsoberhaupts, aber geräumiger und für TV-Auftritte besser geeignet. Die Wände sind bespannt mit grünem Damast, das Pult mit den Telefonen ist eine Attrappe. Hinter dem schmucklosen Schreibtisch: Michail Gorbatschow, 60, letztes Staatsoberhaupt der UdSSR. Ein Reformer, der selbst vom Wandel überrollt wurde.
Die alte Planwirtschaft ist zusammengebrochen, noch bevor die neue Marktwirtschaft auch nur annähernd zu funktionieren begonnen hat. Der Ölpreis ist seit Beginn der Achtzigerjahre um zwei Drittel gefallen, die Sowjetunion hat ihre wichtigste Einnahmequelle verloren.
"Fleisch erreicht Odessa", schreibt in jenen Tagen das Massenblatt "Komsomolskaja Prawda", und die Zeitung "Prawda": "Kein Brot in Krasnojarsk".
"Liebe Landsleute", setzt Gorbatschow an zur letzten Rede, "das Schicksal hat es so gewollt, dass ich das Steuer des Landes übernahm, als es um den Staat bereits schlecht bestellt war." Als "leader without a country", Herrscher ohne Land, hat ihn das "Time"-Magazin zwei Tage zuvor bezeichnet. Seine Macht reicht kaum noch über die roten Mauern des Kreml hinaus.
"Nicht gelernt, mit der Freiheit umzugehen"
Die Präsidenten der Teilrepubliken haben Gorbatschow kaltgestellt, angeführt von seinem Rivalen Boris Jelzin, der seit Juni 1991 den Titel "Präsident der Russischen Sowjetrepublik" trägt. Jelzin wartet ungeduldig darauf, Gorbatschows Platz zu übernehmen - ebenso auf den Tschemodantschik, den Koffer, dessen Besitzer einen Nuklearschlag autorisieren kann.
Gorbatschow verliest eine Erklärung, zugleich Rücktritt, Rechtfertigung und Mahnung:
Als Gorbatschow den grünen Ordner mit dem Redetext zuklappt, tritt mit ihm auch die Sowjetunion ab von der Bühne der Weltgeschichte. Binnen weniger Stunden erkennen die USA die Unabhängigkeit der Ukraine an. Dafür hatten sich mehr als 90 Prozent der Ukrainer bei einem Referendum wenige Wochen zuvor ausgesprochen. Auf der Halbinsel Krim waren 54 Prozent dafür.
Noch am selben Abend nimmt Jelzin das Kontrollsystem der strategischen Raketenstreitkräfte Moskaus in Empfang. Zwei schweigsame Offiziere hatten Gorbatschow jahrelang auf Schritt und Tritt mit dem Koffer begleitet. Sie wachten darüber, dass der Tschemodantschik stets in seiner Reichweite war.
Fortan dienen sie einem neuen Herrn: Jelzin übernimmt das Oberkommando über Russlands Atomarsenal. Auf der anderen Seite des Globus dreht die Redaktion des Fachblatts "Bulletin of the Atomic Scientists" seine Doomsday Clock auf 11:43 Uhr zurück. Die Uhr ist eine Mahnung: Sie soll der Weltöffentlichkeit die Gefahr eines Nuklearkriegs vor Augen führen. Als Gorbatschow 1985 in Moskau an die Macht kam, standen die Zeiger auf drei Minuten vor zwölf.
Gorbatschow muss sich einen Füller borgen
In Moskau steigen um 19:32 Uhr zwei Arbeiter aufs Kreml-Dach. Sie holen die rote Flagge vom Fahnenmast, nach sieben Jahrzehnten. Ein neues Banner wird über der goldenen Kuppel des Präsidentenpalasts gehisst, eine Trikolore in Weiß, Blau und Rot. Fast beiläufig wird die Welt so Zeuge der Wiedergeburt der neuen, alten Großmacht Russland.
Sieben Jahrzehnte Kommunismus enden nicht mit einem Knall, sondern leise seufzend. Die USA werden verehrt, nicht länger gehasst. In einer Umfrage eines Soziologen geben 80 Prozent der Russen an, von Amerika - eben noch Klassenfeind - hätten sie eine gute Meinung. Das Gleichgewicht des nuklearen Schreckens ist Vergangenheit, damit der Ost-West-Konflikt. Und zwar für immer, davon ist damals nicht nur Gorbatschow fest überzeugt.
Dass die Russen sich an ihre Wende von 1991 mehrheitlich nicht als Befreiung erinnern, liegt auch an den Umständen. In den Neunzigerjahren bricht die Wirtschaftsleistung um bis zu 50 Prozent ein, weite Teile der Bevölkerung verarmen. Bei vielen wächst Groll auf die neue Ordnung.
Auf welche Weise die Sowjetunion zerfiel, empfinden viele Russen rückblickend als demütigend. Am Ende hat Gorbatschow - immerhin noch Herr über rund 27.000 Nuklearsprengköpfe - nicht einmal einen funktionierenden Stift zur Hand, um seinen eigenen Rücktritt zu unterzeichnen. Er leiht sich den Füller des CNN-Reporters Tom Johnson.
Das Gorbi-Missverständnis
Gorbatschow war angetreten mit dem Versprechen, die Sowjetunion als Weltmacht ins 21. Jahrhundert zu führen. Ins kollektive Gedächtnis der russischen Gesellschaft aber geht er ein als der Mann, der die UdSSR zu Grabe trug.
In Russland schlägt ihm deshalb zum Teil offener Hass entgegen, im Westen indes wird er auch dafür verehrt. Beides sind im Grunde Missverständnisse - die Ressentiments daheim wie der Gorbi-Kult im Ausland. Gorbatschow wollte den Kalten Krieg beenden, auch das Wettrüsten und die Atomkriegsgefahr beseitigen. Aber nicht die Sowjetunion. (Mehr dazu lesen Sie hier im Gorbatschow-Porträt.)
Der im Westen für seine Perestroika-Politik geachtete Gorbatschow hatte bis zuletzt am Vertrag für eine neue Union gearbeitet. Er wartete auf Unterhändler aus der Ukraine. Sie kamen nie. Seine Wut darüber kann man noch ein Vierteljahrhundert später spüren, wenn er Putins Krim-Annexion verteidigt und die angeblich chronische Unzuverlässigkeit der Ukrainer geißelt.
Die neuen Umrisse Russlands wurden auch geprägt durch Gorbatschows Rivalität zu Boris Jelzin. Bis zum Rücktritt hoffte Gorbatschow auf eine Erneuerung der Sowjetunion als Bundesstaat, der Schritt für Schritt demokratischer werden sollte.
Jelzin jedoch stand ihm unversöhnlich gegenüber. Gorbatschow hatte seinen Widersacher erst als Moskaus Parteichef eingesetzt und ihn 1987 wieder demontieren lassen. Jelzin wurde aus einem Moskauer Krankenhausbett geholt, mit Medikamenten vollgestopft, vor dem Zentralkomitee der Kommunistischen Partei vier Stunden lang gedemütigt.
Eine Sekretärin beerdigt die Sowjetunion
Er vergaß das nie. In der Folge strebte er einen lockeren Staatenbund an, ohne mächtige Zentralregierung, ohne Gorbatschow. Nach Gorbatschows Abschied aus dem Kreml trafen die beiden Rivalen nie wieder persönlich aufeinander.
Der Vertrag, mit dem Jelzin das Schicksal seines Widersachers und der Sowjetunion gleichermaßen besiegelte, kam kurios zustande. Jelzin handelte das Papier Anfang Dezember 1991 ohne Gorbatschows Wissen mit den Präsidenten Weißrusslands und der Ukraine aus. Da ihre Länder 1922 die Sowjetunion gegründet hatten, waren Jelzin, Stanislau Schuschkewitz und Leonid Krawtschuk der Auffassung, sie hätten auch das Recht, sie wieder aufzulösen.
Dafür trafen sie sich im äußersten Zipfel des sowjetischen Machtbereichs, an der Westgrenze Weißrusslands zu Polen. Der staatliche Jagdhof Wiskuli ist umgeben von einem dichten Urwald, durch den noch heute europäische Bisons streifen. Das Treffen der Republikpräsidenten war improvisiert und geheim. Jelzin fürchtete einen Angriff durch kommunistische Hardliner - oder dass Gorbatschow Spezialeinheiten des sowjetischen Geheimdienstes KGB in Marsch setzen könnte.
Der erste Vertragsentwurf wurde nachts handschriftlich notiert. Am Morgen landete er im Mülleimer, eine Putzfrau hielt ihn für Abfall. An eine Schreibmaschine hatte niemand gedacht; eine eilig herbeigerufene Sekretärin tippte das Abkommen auf einer mitgebrachten DDR-Maschine der Marke Optima, die es auch mit kyrillischer Tastatur gab.
Jewgenija Pateitschuk wurde später in ihrem weißrussischen Heimatdorf Kamenjuki bekannt als "die Frau, die unsere Sowjetunion beerdigt hat". Zwei Faxgeräte hielten als Kopierer her. Als die drei Präsidenten das Gründungsabkommen der "Gemeinschaft unabhängiger Staaten" feierlich unterzeichnen wollten, hatten auch sie keinen Stift dabei. Und liehen sich den Kugelschreiber eines Journalisten.
Russen im Zwiespalt
In Russland bleibt das Verhältnis zu diesen Ereignissen widersprüchlich. 1991 blickte das Land mit Hoffnung auf Marktwirtschaft, Demokratie und den Westen. Doch die neue Zeit brachte neben Freiheit auch Jahre der Not.
"Wenn Sie an einer Schlange vorbeikommen, stellen Sie sich an und schätzen Sie sich glücklich, irgendetwas Lohnendes wird es schon geben", war einer der sarkastischen Ratschläge, die das Nachrichtenprogramm "Westi" den Zuschauern Ende 1991 gab.
Und während in Berlin eine Mauer fiel, entstanden weiter im Osten andere neu: Millionen Russen fanden sich über Nacht jenseits der Grenzen des neuen Russland wieder, im Baltikum, in Zentralasien und anderen Nachbarländern.
Als die rote Fahne am Dezemberabend 1991 über dem Kreml eingeholt wurde, löste das ambivalente Gefühle aus. Diesen Zwiespalt hat der Schriftsteller Jewgenij Jewtuschenko, Enkel eines unter Stalin verhafteten "Volksfeinds" und selbst vom KGB "antisowjetischer Tätigkeit" bezichtigt, in Gedichtform gefasst. Er schrieb:
Quelle : spiegel.de
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