Rund sechs Minuten lang war Tabei bewusstlos, ein Sherpa rettete ihr das Leben: Mit bloßen Händen zog er die zierliche Frau aus dem Schnee. Drei Tage lang lag Tabei in ihrem Schlafsack, mit einer geprellten Hüfte und Blutergüssen am ganzen Leib, unfähig, sich zu rühren, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen.
Dann nahm sie ihre ganze Kraft zusammen und schleppte sich weiter. Schritt für Schritt, bis hinauf zum Gipfel. Am 16. Mai 1975, um 12.30 Uhr war sie am Ziel: Als erste Frau der Welt stand Junko Tabei auf dem mit 8848 Metern höchsten Berg der Erde - dem Mount Everest. Und das ausgerechnet im internationalen Jahr der Frau.
"Von wegen Heldentum!"
"Tarzan verjagt", jubilierte der SPIEGEL, "Frauen schließen die Muskel-Lücke", freuten sich US-Feministinnen. Die ganze Welt feierte die nur 1,52 Meter große Bergsteigerin aus Japan. Die mit der Frauenbewegung jedoch gar nichts am Hut hat - und noch weniger als Heldin in die Geschichte eingehen will.
"Von wegen Heldentum! Ich habe doch nur das getan, was ich wollte. Und so halte ich es bis heute ", sagt Tabei im Gespräch und kichert. Die Frau mit der großen Brille und der hellen Stimme, die da am anderen Ende der Welt vor dem Computer sitzt, wirkt nicht wie 75. Sie sieht so drahtig, so dynamisch aus, dass es schwerfällt zu glauben, dass Tabei als Kind unsportlich, kränklich und unsicher war. "Ich war viel zu klein, stets eine der Langsamsten. Und ich hasste den Wettbewerb", sagt Tabei.
"Ich entdeckte eine völlig neue Welt"
1949, als Junko zehn Jahre alt war, bestieg sie auf einem Schulausflug ihren ersten Gipfel: den Mount Nasu. "Beim Hinaufgehen merkte ich: Hier kann jeder sein Tempo selbst wählen, hier gibt es keine Konkurrenz. Der Blick, den ich von da oben hatte, veränderte alles. Ich entdeckte eine völlig neue Welt." Die Begeisterung fürs Gebirge sollte Tabei nicht mehr loslassen. Mit 30 gründete sie den Japanischen Bergsteigerinnenclub, 1970 bezwang sie die Annapurna III, einen Siebentausender im Himalaya.
Der Erfolg machte Tabei verwegen. Nun drängte es die kleine Frau nach ganz oben, aufs Dach der Welt, hinauf zum höchsten Berg der Erde. Ihr Mann hatte Verständnis, schließlich teilte er die Passion seiner Frau - die beiden hatten sich einst beim Klettern kennengelernt. Dennoch hegte er einen sehnlichen Wunsch. Masunobu wollte ein Kind, bevor seine Frau sich auf den Mount Everest wagte.
Tabei ließ sich darauf ein: Ihre Bewerbung gab die Bergsteigerin ab, als sie im vierten Monat schwanger war. Und 1972, ihre Tochter war noch kein halbes Jahr alt, erhielt sie den Zuschlag für das Jahr 1975. Geplant war eine reine Frauenexpedition - mit Junko an der Spitze. Eine Revolution für die damals noch stark traditionelle japanische Gesellschaft.
An Sauerstoff und Equipment gespart
"Die meisten schlugen die Hände über dem Kopf zusammen. Selbst Bergsteiger waren sich sicher, dass wir es nicht schaffen würden", erzählt Tabei. Die Frauen hatten massive Probleme, einen Sponsor zu finden, erst im letzten Moment sprangen eine Zeitung und ein TV-Sender ein. Weil das Budget schmal war, musste an allem gespart werden, selbst an Sauerstoff: Masken sollten erst ab 7500 Metern zum Einsatz kommen. Auch an Equipment fehlte es, "vor allem Steigklemmen waren Mangelware", erinnert sich Tabei.
Anders als heute galt eine Everest-Expedition damals noch als höchst riskant: "Pro Saison durfte nur ein Team hinauf. Es gab noch keine ausgetretenen Pfade, jeder musste seinen Weg selbst finden", sagt die Japanerin. Die 15-köpfige Frauengruppe, begleitet von neun örtlichen Sherpas und einem Kamerateam, entschied sich für die Südost-Route - jene Strecke, die 1953 auch Edmund Hillary und Sherpa Tenzing Norgay beschritten hatten.
"Ich schleppte mich wie in Trance voran"
Am 5. Mai ruhten sich die Bergsteigerinnen gerade in einem auf 6300 Meter gelegenen Hochlager aus, als plötzlich eine Lawine auf sie herabdonnerte. Nur knapp entging Junko dem Erstickungstod. "Ich war mir sicher, dass ich sterben würde", sagt sie. Und lief nach ein paar Tagen Pause dann trotzdem weiter. "Warum denn auch nicht?", fragt Tabei und lacht, als handele es sich um eine Selbstverständlichkeit. Schließlich sei niemand umgekommen, nicht einmal Knochenbrüche habe es gegeben. "Das Kamerateam wollte abbrechen, doch die Sherpas versprachen, uns auch weiterhin beizustehen. Also wagten wir es", so Tabei.
An die letzten Meter erinnert sich die Bergsteigerin nur ungern: "Es war schrecklich anstrengend, ich schleppte mich wie in Trance voran, Hand in Hand mit Sherpa Ang Tshering." Als sie schon kurz vor dem Ziel waren, ragte plötzlich dieser vereiste Grat vor ihnen auf, vor dem niemand sie gewarnt hatte. Ein falscher Schritt - und Tabei wäre Tausende von Metern in die Tiefe gestürzt. Zentimeter für Zentimeter quälte sich die Bergsteigerin seitwärts, niemals sollte sie sich angespannter fühlen als in jenen Minuten. Doch sie hielt durch.
"Irgendwann rief Ang Tshering plötzlich: Wir sind oben, wir sind oben!", erinnert sie sich. Weder stolz noch froh sei sie in jenem Moment gewesen, sondern einzig und allein erleichtert. "Ich wollte keinen einzigen Schritt mehr tun. Nie mehr", sagt Tabei.
Rund 50 Minuten habe sie damals auf dem Dach der Welt ausgeharrt. Sie rammte die japanische und die nepalesische Fahne ins ewige Eis. Sprach per Walkie-Talkie mit dem im Camp wartenden Kamerateam. Und knipste eine Filmrolle nach der anderen voll. Dann machte sie sich an den beschwerlichen Abstieg: quer durch ein Land, das seit dem verhängnisvollen Erdbeben vom 25. April 2015 ein völlig anderes ist.
Hilfsaktionen für die Sherpa-Dörfer
"Erdbeben begleiten mein Leben. 2011 traf es meine Heimat Fukushima - und nun auch noch Nepal, mein zweites Zuhause. Ich möchte helfen, wo ich kann. Ich denke, dies wird meine Lebensaufgabe", sagt Tabei. Schon seit 1990 engagiert sich die Bergsteigerin mit ihrem Verein, dem "Himalayan Adventure Trust of Japan", für den Umweltschutz in der Region. Nun kommen neue, sehr viel existenziellere Aufgaben auf die Organisation zu.
Derzeit sammelt Tabei Geld und Güter, die sie in die betroffenen Regionen schickt. Sobald es ihr möglich ist, wird sie nach Nepal reisen, um den Menschen persönlich beizustehen. Mit ihren Hilfsaktionen konzentriert sie sich vor allem auf Sherpa-Dörfer wie Lukla, Namche Bazaar und Khumjun. "Dort wohnen jene Menschen, die uns damals so sehr geholfen haben", sagt Tabei.
Gleichzeitig gibt die Grande Dame der japanischen Bergsteiger-Elite jedoch auch das Klettern nicht auf. Tabei reicht es nicht aus, dass sie 1992 als weltweit erste Frau die "Seven Summits", also die jeweils höchsten Gipfel aller Kontinente bezwungen hat. Sie nahm sich auch vor, in jedem Land der Erde den jeweils höchsten Berg zu erklimmen. 73 hat sie bereits geschafft, darunter die Zugspitze, den Kilimandscharo und den Mont Blanc. Bergsteigen könne jeder, sagt sie. "Was zählt, ist der Wille. Der Wille, es nach ganz oben zu schaffen."
Warum tut man das, kommt da nicht irgendwann Langeweile auf? Tabei neigt den Kopf zur Seite und blickt erstaunt. "Langweile? Ich bin immer wieder neugierig, jeder Berg ist doch so völlig anders", sagt sie. Außerdem ermöglichten ihr die Gipfel eine ganz neue Perspektive auf das Leben: "Da oben fühle ich mich gelassen, frei von Sorge. Da oben merke ich: Es ist ganz egal, was die Menschen denken."
Dann reißt mit einem blubbernden Skype-Ton die Verbindung zu Junko Tabei ab. Im Juni fliegt die Bergsteigerin wieder los, nach Irland, wo sie Carrantuohill bezwingen wird. Mit 1041 Metern ein Klacks für Tabei.
Quelle :spiegel.de
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