Protest gegen "Schmarotzer-Steuer"

  16 März 2017    Gelesen: 859
Protest gegen "Schmarotzer-Steuer"
Wer arbeitslos ist, soll eine Sondersteuer zahlen - das neue Dekret treibt verzweifelte Weißrussen auf die Straße. Wie lange wird der autoritäre Präsident Lukaschenka den Massenprotesten zuschauen?
Halina ist wütend. Sie schaut auf eine gelbe Metallwand, die das Panzer-Denkmal umstellt. "Sanierung" steht in schwarzen Buchstaben auf einem Schild. "Sanierung, einfach lächerlich", sagt die 56-Jährige. Der Zaun sei erst vor wenigen Stunden aufgestellt worden, erzählt sie. "Die haben nur Angst, dass wir auf den Panzer klettern."

Babrujsk, eine 220.000-Einwohner-Stadt knapp zwei Autostunden südöstlich der weißrussischen Hauptstadt Minsk. Halina ist eine der ersten auf dem Platz.

Am Ende werden es mehr als 800 Menschen sein, die gegen das Dekret Nummer 3 von Staatschef Aljaksandr Lukaschenka protestieren: das "Dekret zur Vorbeugung des sozialen Schmarotzertums" vom April 2015. Auch in anderen Städten wie Pinsk, Brest, Orscha und Rahatschou versammeln sich Hunderte. In dem seit 22 Jahren von Lukaschenka autokratisch regierten Land sind solche Proteste selten.

Doch viele Weißrussen haben genug, das Dekret trifft die Schwächsten. Wer weniger als 183 Tage arbeitet, muss dem Staat eine Sondersteuer in Höhe von umgerechnet mehr als 200 Euro für das vergangene Jahr bezahlen, dafür, dass er Einrichtungen wie Kliniken und Straßen nutzt. In Weißrussland, wo das Durchschnittsgehalt bei rund 350 Euro monatlich liegt, ist das viel Geld, erst recht für jene, die keinen Job haben.

Offiziell liegt die Arbeitslosenquote bei nicht einmal einem Prozent. Experten gehen aber von weit höheren Zahlen aus. Viele Weißrussen arbeiten nur ein paar Stunden die Woche. Beschäftigt zu sein, bedeutet in Belarus nicht unbedingt auch, Einkommen zu haben.

470.000 Menschen haben die Behörden bereits angeschrieben. So wie Halinas Söhne, 29 und 38 Jahre, die im vergangenen Jahr keine Arbeit hatten. "Glücksbriefe" nennen die Menschen diese Schreiben, was viel über die sarkastische Art sagt, mit der Verzweiflung umzugehen. Bis zum 20. Februar hätten Halinas Söhne das Geld überweisen müssen, bisher haben es nur 51.600 der Angeschriebenen getan. "Wir werden auf keinen Fall zahlen", sagt Halina, die in einer Tankstelle arbeitet. "Blödsinnig" nennt sie das Dekret.

Es klingt nach einer Erziehungsmaßnahme aus Sowjetzeiten. Tatsächlich spricht Lukaschenka selbst davon, diejenigen, die es müssen und können, zur Arbeit zwingen zu wollen. Nur anders als zu Sowjetzeiten, als laut Verfassung Arbeitspflicht bestand, gibt es diese heute nicht mehr.

"Wer will, der findet Arbeit, sagen sie. Wo denn bitteschön, wo denn?", schreit eine ältere Dame in Pelzmütze und lila Mantel, sie stellt sich zu Halina. "Ich habe es so satt, wir sind keine Schmarotzer. Es geht um unsere Enkel, um ihre Zukunft", ruft die 62-jährige Rentnerin, ihren Namen will sie nicht sagen. "Er hat uns verraten, er muss weg."

Er - das ist Lukaschenka, und an diesem Tag werden auch viele andere fordern, dass der Staatschef geht. Andere nennen ihn einen "Banditen", der endlich etwas gegen die Milliardenverschuldung des Landes, gegen die Rezession unternehmen solle. Diese Menschen fürchten einen Maidan wie in der benachbarten Ukraine, der die Lage noch verschlimmern könnte, zu groß wäre dann auch womöglich der Einfluss Russlands, so ihre Angst.

Weißrussland ist ohne Zuschüsse aus Moskau, etwa durch subventioniertes Gas nicht lebensfähig, doch die hat Präsident Wladimir Putin, selbst in einer Wirtschaftskrise, gekürzt. Lukaschenka hofft deshalb auf Hilfe aus Brüssel.

"Schande, Schande" rufen die Menschen in Babrujsk - trotz der zivil gekleideten KGB-Beamten, die sich unter die Menge mischen und filmen. Nachrichten schwirren über den Platz von Verhaftungen oder Bussen, die angeblich ein paar Straßen weiter stehen sollen, um die Demonstranten abzuholen. Als eine Drohne die Menschen aus der Luft filmt, winken sie zur ihr hoch - eine Teilnehmerin sagt: "Ah, das fliegende Stadtbudget".

Die Menschen sind zu trotzig und aufgebracht, als dass sie sich vertreiben ließen. Ruslan, 35, Jäger, fragt: "Die Leute haben kein Recht auf Arbeit, auf Wahlen, auf eigenes Land, auf eigene Waffen - was ist da noch der Unterschied zu den Sklaven im Römischen Reich?" Tatjana, 28, erzählt, dass sie am 28. März ohne Arbeit dastehen wird. Ihr Vertretungsjob in einem Bücherladen endet. "Ich bin das erste Mal auf einer Demonstration", sagt sie. "Ich will mein Land nicht verlassen müssen, um Arbeit finden zu können."

"Das Dekret ist sein größter Fehler"

Mehr als eine Million Weißrussen arbeiten inzwischen im Ausland, in Russland oder in EU-Ländern, Halina war selbst zehn Jahre lang Pflegerin in Italien. Viele jobben illegal.

"Lukaschenka hat gedacht, dass er auch bei diesen Gastarbeitern durch das Dekret Steuern kassieren lassen kann. Dabei hat er nicht bedacht, dass sie ihre Familien hier ernähren müssen", sagt Analytiker Kanstantin Skuratowitsch. Er sitzt am Küchentisch seiner Datscha, unweit von Minsk. Im Grunde genommen sei es dem Präsidenten egal, wie die Menschen die Steuer bezahlen. "Das Dekret ist sein größter Fehler. Er hat gedacht, die Belarussen sind so still, er könne sie ausbeuten."

Doch genau das lassen sich die Menschen nicht gefallen - sie gehen auch dann noch auf die Straße, als Lukaschenka verkündet, das Dekret für ein Jahr auszusetzen. "Es muss abgeschafft werden", sagt Halina, "deshalb stehen wir hier". Das Regime solle Schluss mit dem "Spion-Spiel" machen.

Oppositionspolitiker und Journalisten verhaftet

Halina meint damit die Verhaftungen von Aktivsten und Journalisten, die Menschenrechtsorganisation Wjesna zählt inzwischen über 100 Fälle. Lukaschenka lässt seine Sicherheitskräfte inzwischen härter einschreiten. Geht er allerdings zu heftig vor, könnte das seinen Beziehungen zur EU schaden.

In Maladetschna, eine Autostunde nordwestlich von Minsk entfernt, versammeln sich etwa 1000 Menschen, es ist die erste Kundgebung in der 100.000-Einwohner-Stadt. Mit dabei Oppositionspolitiker wie Wital Rymascheuski. "Jetzt ist Zeit für Reformen, wir sind bereit, mit Lukaschenka darüber zu sprechen", sagt der 42-Jährige, der mit seiner Familie unter ständigem Druck der Behörden lebt.

Auch in Maladetschna halten ihn zwei Polizisten an, warnen ihn. Der KGB filmt. Anders als in Babrujsk tritt der Geheimdienst massiv auf, überall sind schwarz gekleidete Beamte anwesend. Nach dem Marsch werden Rymascheuski und zwei andere Oppositionelle vom KGB durch den Ort eskortiert, der Christdemokrat versucht, die Szene live zu streamen, doch das Internet funktioniert nicht mehr.

Rymascheuskis Auto ist durch Polizeiwagen blockiert. Man sagt ihm, er müsse mit aufs Revier, er habe Ordnungswidrigkeiten begangen. Als er seine Aussage an Ort und Stelle machen will, fährt ein grauer Lieferwagen vor, KGB-Männer zerren ihn hinein.

Rymascheuski wird wie die anderen Oppositionellen zu 15 Tagen Haft verurteilt. Sie können damit weder am Mittwoch noch am 25. März, dem Jahrestag der Gründung der Belarussischen Volksrepublik, an den geplanten Protesten in Minsk teilnehmen.

Halina wird trotzdem fahren: "Ich habe keine Angst."

Quelle : spiegel.de

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