Wieso immer weniger indische Frauen arbeiten

  15 April 2017    Gelesen: 959
Wieso immer weniger indische Frauen arbeiten
Das Reservoir an Arbeitskräften in Indien wächst. Aber immer weniger Frauen sind in den Arbeitsmarkt integriert. Auch andere Entwicklungen sind erstaunlich.
Die Verfassung Indiens ist die längste der Welt: Ihre englische Version umfasst 500 Seiten oder 80'000 Wörter. Das heisst: Sie ist präzise und ausführlich – die Verfassung bedenkt alles. Auch die Löhne der Frauen: Für gleiche Arbeit sollen Frauen und Männer gleich viel verdienen. Denn in der Verfassung steht auch: Frauen und Männer haben die gleichen Rechte.

Doch die Verfassung ist eben auch genau das: viele Worte auf viel Papier. Das zeigt besonders eindrücklich die folgende Statistik: Der Anteil berufstätiger Inderinnen beträgt laut Zahlen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) bloss 27 Prozent. Das ist zwar mehr als in Saudiarabien, im Sudan, in Iran oder im Irak, aber weniger als etwa in Somalia.



Besonders beunruhigend: 2004 haben noch 42 Prozent der über 15-jährigen Inderinnen gearbeitet.



Der Rückgang von 42 auf 27 Prozent in gut zehn Jahren ist eindrücklich und beschäftigt Experten und Politiker. Doch sie sind sich uneinig über die Gründe, weshalb in Indien immer weniger Frauen arbeiten. Die folgenden vier Punkte dürften allesamt zur negativen Entwicklung beigetragen haben.

1. Falsch gemessen?

Einer der Gründe für die drastische Verschlechterung könnte sein, dass die früheren Statistiken zur Arbeitsmarktintegration der Frauen unzuverlässig waren. Womöglich haben gar nie so viele Frauen gearbeitet, wie die Daten der ILO glauben machen wollen. Diejenigen, die an den Daten zweifeln, verweisen etwa darauf, dass viele Inderinnen durchaus arbeiteten – einfach zu Hause und unbezahlt. Die ILO widerspricht dieser Interpretation und verweist darauf, dass auch in der bezahlten Arbeit ausserhalb der eigenen vier Wände der Anteil der Frauen zurückgegangen sei.

2. Indien wurde reicher

Entscheidender als Messfehler dürfte sein, dass Indien in den vergangenen zehn Jahren wohlhabender geworden ist. Viele Inder zogen in die Städte, das Haushaltseinkommen wuchs. Das befreite die Frauen vom Zwang, auf den Feldern zu arbeiten. Doch zugleich fehlen Arbeitsstellen für Frauen ausserhalb der Landwirtschaft. Die Konsequenz: Die Frauen bleiben zu Hause.

Dass Urbanisierung den Anteil der Frauen im Arbeitsmarkt reduziert, ist bekannt. In der Türkei waren 1989 noch 36,1 Prozent der Frauen im Arbeitsmarkt integriert; 2005 waren es nur mehr 23,3 Prozent. Gleichzeitig stieg der Anteil der in Städten lebenden Türken enorm: 2015 lebten in der Türkei fast gleich viele Menschen in Städten wie in Deutschland.

3. Paradox: Ein Oberstufenabschluss ist eher hinderlich

Mit dem Wohlstand nahm auch die Zahl der Frauen mit einer höheren Schulbildung zu. Doch das hat deren Chancen auf dem Arbeitsmarkt nicht unbedingt verbessert. Im Gegenteil. Inderinnen mit einem Oberstufenabschluss haben die schlechtesten Aussichten, eine Stelle zu finden.

Besser sieht es bei Inderinnen mit einem Hochschulabschluss aus. Sie haben eine 30 Prozent höhere Chance, eine bezahlte Arbeit zu finden, als Frauen mit einem Oberstufenabschluss. Es gibt in Indien auch Branchen, die international eine Vorreiterrolle einnehmen: In Indiens Luftfahrtbranche sind 11 Prozent der Piloten Frauen; das sind 8 Prozentpunkte mehr als der globale Durchschnitt.

4. Tradition und Sitten

Hinzu kommen Traditionen und Sitten, die sich je nach Region und Kaste unterscheiden. Inderinnen aus progressiven und wohlhabenden Familien, die ihren Kindern ein Hochschulstudium ermöglichen, arbeiten auch nach westlichem Verständnis selbstbestimmt. Doch nach wie vor ist ein Grossteil der Inder arm. Das wirkt sich nicht nur auf die Integration der Frauen in den Arbeitsmarkt aus, sondern auch darauf, was diese sich unter einem selbstbestimmten und erfüllten Leben vorstellen.

Eine am diesjährigen International Women's Day präsentierte Studie der ILO wirft nämlich die Frage auf, ob Indiens Frauen überhaupt arbeiten wollen. Für die ILO befragte das Gallup-Institut 149'000 Erwachsene in 142 Ländern. Die Antworten der Inderinnen waren gerade vor dem Hintergrund der tiefen Arbeitsmarktintegration aufschlussreich. So sagten nur 30 Prozent der Inderinnen, dass sie lieber einer bezahlten Arbeit nachgehen möchten. 41 Prozent hingegen gaben an, dass sie lieber zu Hause bleiben würden. Nur Länder wie Algerien, Jemen, Pakistan und Afghanistan wiesen ähnliche Werte auf.

Die Forscher deuten das als Hinweis darauf, wie sehr die gesellschaftlichen Erwartungen die Vorstellungen der Frauen selbst von der Rolle, die sie zu erfüllen haben, prägen. Um das zu ändern, braucht es mehr als einzelne Verfassungsartikel. Zum Beispiel Vorbilder wie die Taxifahrerinnen von Delhi, die anderen Frauen zeigen, dass Frau jeden Beruf ausüben kann, wenn sie nur will.

Quelle:nzz

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