Doch all die Vergleiche sind falsch. Angela Merkel taugt für kein Shakespeare-Drama. Die Kerle-Welt der markigen Worte, dort also, wo die Wladimir Putins, Recep Tayyip Erdogans und Donald Trumps zu Hause sind, ist ihr nicht nur fremd. Sie verkörpert das Gegenbild dazu. Dort Mars, hier Venus. Merkels Naturell entstammt nicht der wüsten Welt von Gefühlen, Pathos, Gewalt und großen Gesten. Ihr Wesen ist aus einem norddeutschen Klinkerbau erwachsen, kühl und schmucklos und rational und bescheiden. Sie ist durch und durch protestantisch. Das heißt, dass sie sich weniger durch das definiert, was sie ist, als durch das, was sie nicht ist. Das ist das eigentliche Geheimnis ihrer Politik.
Derzeit ist sie demonstrativ nicht an der Seite Donald Trumps. Dessen neo-nationalistische Rüpel-Politik namens "America First" zwingt Europa zu einer neuen Selbstverortung. Merkel spürt den drehenden Wind der Geschichte und formuliert im Münchner Bierzelt so etwas wie Europas Unabhängigkeitserklärung: "Die Zeiten, in denen wir uns auf andere völlig verlassen konnten, die sind ein Stück vorbei. Das habe ich in den letzten Tagen erlebt. Und deshalb kann ich nur sagen: Wir Europäer müssen unser Schicksal wirklich in unsere eigene Hand nehmen." Die Protestantin protestiert gegen Trump und wächst damit automatisch in die große Rolle der Reformatorin. "Merkel schlägt ein neues Kapitel der US-europäischen Beziehungen auf", schreibt die beeindruckte "Washington Post" und weiter: "Sie hat Trump glasklar zurückgewiesen."
Den Trick mit dem protestantischen Nicht-Sein macht einen Großteil ihrer Karriere aus. Immer wenn etwas kippte, war sie flugs gezielt dagegen und gewann so eigenes Profil. Mit der Wende war sie gegen die DDR (also gegen das Prinzip Diktatur), dann gegen Helmut Kohl (gegen das Prinzip Pate), dann gegen Joschka Fischer und Gerhard Schröder (gegen das Prinzip Testosteron), danach war sie nicht Roland Koch, nicht Friedrich Merz, nicht Christian Wulff (gegen das Prinzip Mann). Ihr Geschick bestand häufig darin, im richtigen Moment den richtigen Gegner zu wählen und sich zu distanzieren. Und sei es schlagartig, etwa als in Japan ein Atomkraftwerk überflutet wurde, da war sie plötzlich gegen die Kernenergie. Oder als ein neo-sozialistischer Grieche namens Yanis Varoufakis ihr an die Ehre und Deutschland ans Portemonnaie wollte, da war sie plötzlich nicht mehr nachgiebig.
Gegenentwurf zum Bösewicht
Jetzt ist sie nicht mehr für die USA, weil deren Bulldozer-Präsident aller Welt unsympathisch ist. Sie wittert die Chance, sich wieder einmal gegen einen Bösewicht als Gegenentwurf zu stilisieren. Seit dieser Woche feiert die westliche Presse Angela Merkel jedenfalls als Anführerin des liberalen Westens.
Ausgerechnet die Erfinderin des Jargons von der Alternativlosigkeit hat das Spiel mit der inszenierten Alternative zur Perfektion getrieben. Die Rolle als Alternative zu Trump ist ein dankbares Rollenspiel, das sie nur gewinnen kann. Je mehr er das verbohrte Trumpelstilzchen gibt, desto heller leuchtet ihr Stern als große liberale Ausgleicherin. Diese Weltenretterrolle läßt ihren innenpolitischen Herausforderer ganz nebenbei wie einen altmodischen Provinzmeckerer wirken. Sie wird Martin Schulz im Wahlkampf gar nicht mehr adressieren müssen, sie wird über ihn hinwegreden.
Merkel hat Schulz von Anfang an so eingeschätzt, dass sie ihn besser ignoriert und damit miniaturisiert. Sie setzte ganz auf große Weltpolitik und drängte ihn auf die kleine Taubenzuchtvereinsebene. Sie war Washington, er war Würselen. Das war im ersten Quartal eine mutige Strategie. Nur wenige in der Union wollten ihr damals folgen. Die Wunden der Migrationskrise und die Entfremdung der Partei mit ihrer als stur und gefährlich empfundenen Multikulti-Linie ließen sie isoliert wirken. In der Partei, und insbesondere in der CSU, gärte es, man wähnte sich in ein Wahldesaster schlittern mit einer angeschlagenen und zaudernden Kanzlerin, die den Parteien-Kampf einfach nicht annehme. Doch Merkel hatte einen Plan und blieb vor allem eines - cool.
Und mit jeder Woche, in der das weltpolitische Klima eisiger wurde, da Putin und Erdogan und Trump polterten, scharte sich Deutschland und Europa instinktiv um die ausgleichende und erfahrene Mutterfigur. Die Menschen haben ein feines Gespür für die Hierarchie von Wichtigkeiten in Wahljahren - soziale Gerechtigkeit oder grüne Nachhaltigkeit sind 2017 nicht so wichtig wie Sicherheit und Schutz vor den Stürmen der Weltpolitik.
Merkel behält die Nerven
Viele andere Regierungschefs hätten bei den Poltergeistern und Vulgärprofis von Ankara bis Washington längst die Nerven verloren. Angela Merkel hingegen steckt jede Attacke und Beleidigung mit der robusten Grundruhe einer deutschen Eiche unsichtbar weg. Sie will nun die Euro-Familie zusammenhalten und arbeitet mit der Geduld einer Teppichweberin Knoten für Knoten am neuen Webmuster eines Kontinents, der von Islamisten blutig bedroht, von Russland bedrängt und von den USA verlassen wird. So zieht Merkel die großen Fäden der Weltpolitik Stück für Stück an sich, wie dies unter den bundesrepublikanischen Kanzlern nur Helmut Kohl geschafft hat.
Sie bekommt nun aber auch das Drama, das sie nie gesucht hat. Denn Helmut Kohl am Ende seiner politischen Tage abzukanzeln oder einen Konkurrenten wie Friedrich Merz auszuschalten, waren machtpolitische Fingerübungen im Vergleich zur großen Spannungslage, die sich international jetzt aufbaut. Nun zwischen hochgerüsteten Despoten, Terrorattacken, sprunghaften Narzissten und einer zerfallenden Nato Europas Neuformierung anzugehen, ist eine neue Dimension deutscher Politik. Kann sie dem wankenden Europa tatsächlich einen Weg aus dem verhexten Sommernachtsalbtraum weisen? Sie wird dabei über den politischen Protestantismus hinauswachsen müssen. Das heißt, dass sie sich und Europa fortan auch durch das definieren muss, was man ist, und nicht nur durch das, was man nicht ist.
Quelle: n-tv.de
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