Nach der Havarie am 10. Januar 1992 trieben die Verunglückten in der unendlichen Weite des Pazifiks, hilflos den Urgewalten der Natur ausgeliefert. Dabei waren sie eigentlich einmal dafür bestimmt, in den ruhigen und lauwarmen Gewässern amerikanischer Badewannen zu dümpeln. Denn die 28.800 verunglückten Passagiere waren allesamt Kinderspielzeuge.
Quietschgelbe Entchen. Rote Mini-Biber. Grüne Frösche. Blaue Schildkröten. Ihr eigentliches Ziel, den Hafen von Tacoma im US-Bundesstaat Washington, hat keines der Plastiktierchen aus China je erreicht. Stattdessen schwimmen Tausende von ihnen immer noch unermüdlich über die Weltmeere, nach Tausenden Kilometern ausgebleicht vom Salzwasser, ausgetrocknet von der tropischen Sonne und zerkratzt von den Angriffen der Seevögel, die sie mitunter mit schmackhaften Fischen verwechseln.
Niedlicher Müll
Es ist leicht, dieses groteske Badeenten-Desaster vor genau 20 Jahren rührend zu finden. Sofort drängen sich Bilder auf, von einer Armada winziger gelber Enten etwa, die Seemeile für Seemeile wacker einen schäumenden Wellenkamm nach dem anderen meistert. Ja, man kann sich die Tierchen auf ihrer Sisyphos-Reise über die Ozeane, bei der sie mächtige Strömungen jahrelang immer wieder im Kreis treiben ließen, sogar irgendwie fröhlich vorstellen.
Schnell vergessen wir dabei, was da eigentlich im Meer schwimmt: Plastikmüll, der erst nach Jahrhunderten vollständig biologisch abgebaut sein wird. Und der Unfall ist kein Einzelfall: Jedes Jahr rutschen etwa 10.000 Container über Bord - wie derzeit bei der Havarie des Frachters "Rena" vor der Küste Neuseelands. Bisher sind etwa 130 Container ins Meer gestürzt, weitere 900 befinden sich noch unter Deck des Unglückschiffes, dessen abgerissenes Heck bereits sinkt.
Auch wegen solcher Vorfälle sind die Ozeane immer mehr zur Müllkippe verkommen: Seevögel verfüttern Plastik an ihre Jungtiere, Meeresschildkröten fressen Einkaufstüten, weil sie sie für Quallen halten. In manchen Meeresregionen ist die Konzentration von Kunststoffpartikeln sechsmal höher als die von Plankton. Längst haben Forscher den "Great Pacific Garbage Patch" entdeckt: einen gigantischen Müllteppich im Nordpazifik, der nach Schätzungen aus rund hundert Millionen Tonnen Plastik besteht.
Als Nike-Schuhe schwimmen lernten
Und dennoch gibt es Menschen wie den US-amerikanischen Meeresforscher Curtis Ebbesmeyer, die Unglücken wie dem mit den Badeenten auch etwas Positives abgewinnen können. Im Grunde verdankt Ebbesmeyer, der schon als Kind von den Meeren fasziniert war, seine Bekanntheit in den USA dem treibenden Wohlstandsmüll.
Es fing an mit dem Frachter "Hansa Carrier", der am 27. Mai 1990 vor der Küste Alaskas in einem heftigen Sturm geriet. Fünf Container fielen ins Meer, vier öffneten sich dabei - und gaben ein besonderes Treibgut frei: 61.820 Turnschuhe der Marke Nike.
Als 250 Tage nach dem Unglück die ersten Exemplare der Nike-Flotte an die Pazifikküste der USA gespült wurden, brach dort sofort hektische Betriebsamkeit aus. Viele Amerikaner gingen zur Schnäppchenjagd nun lieber an den Strand als in die Einkaufsmall. Sie organisierten eine Tauschbörse, die zusammenbringen sollte, was der Pazifik auseinandergerissen hatte: Frauen- und Männermodelle, linke und rechte, große und kleine Schuhe.
Ein riesiges Freiluft-Experiment
Besser hätte sich die unfreiwillige Werbung auch kein PR-Stratege ausdenken können: Reporter lieferten schöne Geschichten von glücklichen Findern, die erstaunt berichteten, dass die Schuhe trotz monatelanger Odyssee noch immer prächtig saßen. Ebbesmeyer hingegen entwickelte aus einem anderen Grund Interesse für die nassen Treter.
"Meine Mutter hatte eine Geschichte aus der Zeitung ausgeschnitten, die sich um das seltsame Phänomen der angespülten Schuhe drehte", erinnert sich Ebbesmeyer im Gespräch mit einestages. "Sie fragte mich, ob das nichts für mich wäre, schließlich sei ich doch Meeresforscher" - und behielt Recht. Denn die naive Frage brachte ihn auf einen verrückten Gedanken: Warum sollte er das Unglück nicht als Einladung für ein "riesiges wissenschaftliches Experiment" verstehen, das ihm der Zufall "wie auf einem Silbertablett" serviert hatte?
Zusammen mit dem Informatiker James Ingraham, der für die US-Fischereiverwaltung arbeitete und das Programm OSCURS zur Berechnung der Meeresoberflächenströmungen entwickelt hatte, rekonstruierte Ebbesmeyer nun die mutmaßliche Schwimmroute der Schuhe - und prognostizierte die weitere Reise jener Nikes, die noch nicht ans Land gespült worden waren.
Und tatsächlich: Wie vorhergesagt tauchten 1993 Schuhe auf Hawaii auf, ein Jahr später in Japan und den Philippinen. Sie konnten anhand der Seriennummern als jene Schuhe identifiziert werden, die Jahre zuvor über Bord gegangen waren.
Geburt einer neuen Forschungsrichtung
Damit hatte Ebbesmeyer einen neuen Forschungszweig ins Leben gerufen: die Berechnung von komplexen Oberflächenströmungen durch schwimmenden Müll. Doch nicht alle Kollegen nahmen ihn ernst. Längst setzten Ozeanographen High-Tech-Bojen ein, die fast beliebig tief tauchen können und damit in der Lage sind, nicht nur Strömungen auf der Meeresoberfläche zu erfassen. Zudem sind sie jederzeit per Satellit zu orten.
Ebbesmeyers Methode hingegen war im Vergleich dazu zwar unschlagbar günstig, wirkte aber auch ein wenig wie ein Rückschritt in die Kindertage der Meeresforschung: So hatten Forscher in den fünfziger Jahren zehntausende Flaschen mit Nachrichten ausgesetzt - in der etwas naiven Hoffnung, dass sie irgendwann jemand entdecken und den Fund auch noch melden würde.
Dennoch: Seit der Geschichte mit Nike war aus dem bis dahin unbekannten Ozeanographen ein gern geladener Interviewgast geworden. Als zwei Jahre später die 28.800 bunten Badetiere auf Weltreise gingen, bot sich für Ebbesmeyer ein zweiter spektakulärer Testversuch.
Land in Sicht
Nur: Die Entchen zeigten dem Forscher schon bald die Probleme seiner Methode auf. Sie hatten ganz andere Schwimmeigenschaften als die Nike-Schuhe, die sich mit Wasser vollsogen, bis nur noch die Hacke aus dem Wasser ragte. Ebbesmeyer musste bei der Berechnung bedenken, dass die leichten Planschtiere für Wind viel anfälliger waren. Denn die Entchen, Biber, Frösche und Schildkröten schossen fast über den Ozean - sie bewegten sich mitunter doppelt so schnell wie die Strömungsgeschwindigkeit des Wassers.
Direkt nach der Havarie gerieten sie in den Subpolaren Wirbel, einen gewaltigen Strömungsring, der gegen den Uhrzeigersinn läuft und sie erst vorbei an den Küsten Alaskas in Richtung Japan trieb, bevor sie der mächtige Kurishio-Drift wieder zurück nach Nordamerika trug. Wieder und wieder.
Nach 3200 Kilometern und zehn Monaten wurden die ersten Tierchen in der Nähe der Hafenstadt Sitka in Alaska an Land gespült - und anhand der Prägung des Herstellers "The First Years" identifiziert. Ein vergleichsweise kurzes Abenteuer: Die nächsten fand man erst anderthalb Jahre später an den Küsten Hawaiis. Und Tausende dürften noch heute im Pazifik Karussell fahren.
Weiterreise im Packeis
"Jedes Jahr werden noch Plastiktiere gefunden", erklärt Ebbesmeyer, dem Menschen aus der ganzen Welt die Funde melden - zuletzt wurde 2011 eine blaue Schildkröte in Alaska angetrieben. "Sie brauchen drei Jahre, um eine Runde in dem Subpolaren Wirbel zu drehen. Einige haben das also bereits sechsmal gemacht. Aus meiner Erfahrung mit anderem Treibgut weiß ich, dass zehn Umrundungen nicht ungewöhnlich sind. Daher könnten sie noch mindestens bis 2022 in dem Wirbel treiben."
Und nicht nur dort: Einige, so prognostizierte Ebbesmeyer schon vor Jahren, dürften über die Beringstraße zwischen Alaska und Sibirien ins Arktische Meer gelangt sein - vermutlich eingefroren im Packeis. Sie trieben Richtung Grönland und gelangten von dort in den Nordatlantik. 2003 wurde ein grüner Plastikfrosch in Schottland angetrieben - und damit der erste Beweis für diese zigtausend Kilometer lange Odyssee geliefert.
In der Zwischenzeit war Ebbesmeyer immer bekannter geworden. Unermüdlich experimentierte er mit ungewöhnlichem Treibgut: Mit 2050 Eishockeyhandschuhen aus dem Jahr 1994, mit 3,1 Millionen schwimmender Legofigürchen von 1998, mit einer halben Million Bierdosen, die vor Hongkong ins Meer fielen - oder mit einer zweiten Nike-Schwemme (diesmal 33.000 Schuhe) aus dem Jahr 2002.
Warten auf die Enten-Invasion
Doch keiner dieser künstlichen Schiffbrüchigen war hartleibiger und zudem in den Medien beliebter als die Plastik-Entchen, die viele Reporter auch noch zu Gummi-Quietschentchen verniedlichten. Und so sagten im Jahr 2007 etliche Zeitungen eine "Invasion der Badeentchen" im Süden Englands voraus - und beriefen sich dabei auf Ebbesmeyer.
Strandgäste gingen auf Entenjagd, Sammler hofften auf ein großartiges Geschäft. Doch diesmal hatte sich Ebbesmeyer getäuscht - oder einfach Pech gehabt, dass kein Tierchen gemeldet wurde. Von einer "Invasion" habe er sowieso nie geredet, sagt der inzwischen pensionierte Forscher heute, da sei er falsch zitiert worden. Mit ein paar Hunderten habe er aber tatsächlich gerechnet. Warum sie nicht gefunden wurden? "Es ist ein Mysterium", sagt er und klingt dabei fast so trotzig, wie ein Kind, dem man gerade sein Wasserspielzeug weggenommen hat.
Was bleibt nach der Havarie? Erst etwa 1000 der 28.800 Badetierchen sind gefunden worden. Viele sahen sogar noch brandneu aus. Der Rest wird weiterschwimmen und nicht nur "ziemlich gutes Datenmaterial liefern", wie Ebbesmeyer glaubt, sondern gleichzeitig eine Warnung sein. Denn für ihn ist die kunterbunte Plastik-Armada auch ein Symbol der Zerstörung. "Mutter Natur", sagt er, "dürfte ziemlich unglücklich mit uns sein."
Quelle : spiegel.de
Tags: